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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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sich an der Politik, die er doch durchsetzen sollte, nörgelte an diversen Beschlüssen herum und redete sich um Kopf und Kragen.
    »Wer so redet, ist kein Kommunist«, sagte plötzlich der wichtigste der Wichtigmänner. Ein Wort gab das andere, die Männer schrien sich an, und schließlich knallte mein Vater sein Parteibuch auf den Tisch und verließ die sprachlose Runde. Er kam nach Hause und wollte Abschied nehmen. Er wollte sich das Leben nehmen wegen einer Partei, die ihn nicht zurückliebte. Das war die Geschichte.
    Die Partei setzte ihn dafür ein zweites Mal auf die Strafbank. Sie warf ihm politische Unzuverlässigkeit vor und forderte ihn auf, sein unentschuldbares Verhalten in einer schriftlichen Stellungnahme minutiös zu schildern, zu begründen und Abbitte zu leisten. Also setzte sich mein Vater an seinen Schreibtisch und überführte sich auf zwölf engbeschriebenen Seiten der Überheblichkeit, der Arroganz, des Starrsinns, der Eitelkeit und des übertriebenen Ehrgeizes. Seinen Selbstmordversuch begründete er mit »politischem und persönlichem Versagen« und nannte sich »egoistisch und verantwortungslos«. Mein Vater, der große Funktionär, war auf einmal wieder der kleine Ministrant, den der Pfaffe vor die Tür schickte, weil der Kragen seines Chorhemdes dreckig war oder weil er das Messbuch hatte fallen lassen. Das zwölfseitige Pamphlet, das er jetzt schrieb, war keine Stellungnahme. Es war eine Beichte.
    Seine Partei machte nach außen keine große Sache daraus. Skandale konnte sie sich nicht leisten. Also legte sie meinem Vater nahe, selbst um seine Entmachtung zu bitten. Und so schrieb er noch einen Brief, diesmal an den Vorsitzenden der Partei – seinen alten Jugendfreund, an dessen Seite er nach dem Krieg jener verheißungsvollen Zukunft mit aufgehender Sonne entgegengegangen war. Er bat darum, aus Gesundheitsgründen von seiner Funktion entbunden zu werden. Sein alter Jugendfreund las den Brief, nickte und wies seine Partei an, meinen Vater zum Vizepräsidenten einer Organisation zu machen, die die DDR von ihrer weltoffenen Seite zeigen sollte und die Freundschaftsgesellschaften in der ganzen Welt unterhielt. Mein Vater war eloquent, weltgewandt und sprach fließend Englisch – der Job passte zu ihm, er würde ihn gut machen. Der Riss in seiner Biographie blieb in den Akten, und die Wunde in seinem Leben blieb bei ihm.
    Der Tag, an dem mein Vater mir die Nachricht überbrachte, dass wir wieder nach Berlin ziehen würden, war der schönste in meinem Leben. Bis dahin.
     
    Die Zeit bis zu unserem Umzug verging schnell. Ich wurde vierzehn, der Frühling kam, und mein Vater war kaum noch da, weil er schon in Berlin arbeitete. Meine Mutter nahm er mit und legte sie in ein Krankenhaus in seiner Nähe. Mir schickte er Christa.
    Christa war eine hochgewachsene Frau mit aschblondem, dauergewelltem Haar. Sie war Mitte vierzig und arbeitete als Sekretärin in einem der Büros, die mein Vater geleitet hatte. Der Plan meines Vaters sah vor, dass ich während der Woche bei ihr in der Stadt wohnte. Christa war ganz nett, doch ich hatte nicht die geringste Lust, bei ihr einzuziehen. Ich war schließlich kein Kind mehr, und außerdem genoss ich es, allein in unserer Wohnung zu sein. Doch dieses Argument würde bei meinem Vater nicht ziehen, also musste ich mir etwas einfallen lassen. Ich nahm mein Hausaufgabenheft und schrieb es voll mit Terminen für FDJ -Versammlungen, Arbeitsgemeinschaften, Jugendstunden und Mathe-Nachhilfe. Ich log, dass sich die Balken bogen, und es machte mir Spaß.
    »Das geht immer bis abends«, erklärte ich und hielt ihm das Heft unter die Nase. »Und dann ist es dunkel. Ich will nicht im Dunkeln in die Stadt fahren, da hab ich Angst. Und dann muss ich ja auch immer so früh raus, weil der Bus doch …«
    »Jaja, schon gut«, sagte er. »Aber versprich mir, dass ich mich auf dich verlassen kann!«
    »Klar, Papa.«
    Und er konnte sich auf mich verlassen. Ich kam nachmittags aus der Schule, schmiss meine Mappe in die Ecke und knallte mich vor den Fernseher. Das Zusatzgerät fürs Westfernsehen verschloss mein Vater inzwischen nicht mehr in seinem Arbeitszimmer. Er hatte andere Sorgen. Allerdings stellte ich sehr schnell fest, dass das Westprogramm nachmittags genauso öde war wie das im Osten, nicht mal das Testbild war interessanter.
    Wir hatten uns darauf geeinigt, dass Christa ein Mal in der Woche vorbeikommen sollte, um nach dem Rechten zu sehen. Sie kam immer Mittwochabend

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