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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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Sie schaute nur kurz auf, als wir hereinkamen, und fuhr mit ihrem Make-up fort. »Wenn ich so weitermache, könnt ihr mich bald beim Schönheitswettbewerb derer im Endstadium anmelden«, sagte sie, schaute noch einmal prüfend in den Spiegel und klappte die Puderdose zu. Ich wusste nicht, von welchem Wettbewerb sie sprach und wo sich das Endstadion befand, in dem er ausgetragen wurde. Ich war nur froh, dass es meiner Mutter offenbar besser ging als dem Gesicht meines Vaters. Der schüttelte leise den Kopf, küsste sie auf die Stirn und füllte die Schale auf dem Tisch mit frischem Obst – Weintrauben, Kirschen und Bananen.
    »Hast du etwa wieder den schlimmen Sonderladen leergekauft?«, witzelte meine Mutter. »Sonderladen« – so nannte sie das Geschäft, in dem Parteifunktionäre Lebensmittel kaufen konnten, die es sonst nur unter dem Ladentisch gab. Sie wusste genau, dass sie meinen Vater mit diesem Satz traf. Er schimpfte oft über Genossen, die ihre Privilegien ausnutzten und jeden Tag in diesem Laden ihre Taschen mit exotischen Waren füllten. Er tat das nur sehr selten und zu besonderen Anlässen. Seine dichten Augenbrauen zogen sich für einen Moment zusammen, hinter seiner Stirn schien ein kleiner Krieg zu toben, den sein Mund schließlich gewann. »Es ist schon gut«, sagte er und versuchte ein Lächeln. Mein Vater war ein erbärmlicher Schauspieler.
    »Und du, Süße?« Meine Mutter schaute mich an. »Komm her, lass dich anschauen!« Ich ging hin und ließ mich anschauen. Ich fühlte mich unwohl. Irgendetwas hier war so falsch wie die Farbe in ihrem Gesicht.
    »Hast du was Schönes erlebt?«
    »Ja, war schön.«
    »Hast du dich verliebt?«
    »Nö.«
    »Dann muss es doch unfassbar langweilig gewesen sein, oder?«
    Das war mein Stichwort, wieder plapperte ich los. Ich plapperte und plapperte und gab ihr das Foto, das den Palästinenserführer zeigte, wie er mein Gesicht in seinen Händen hält. Sie betrachtete belustigt das Bild: »Der hatte keine Ahnung, dass du jüdisch bist, oder?« Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. »Und du hast erst recht keine Ahnung«, sagte sie. Die Stationsschwester kam herein und bat uns zu gehen.
     
    Wir fuhren nach Hause, und das Leben ging weiter. Die Schule fing wieder an. Meine Mutter blieb im Krankenhaus und hörte irgendwann auf, sich zu schminken, wenn wir kamen. »Mein Parfüm ist jetzt das hier«, sagte sie schlechtgelaunt und bedachte das Desinfektionsmittel auf ihrem Nachttisch mit angewidertem Blick. Ich war froh, als mein Vater mir eines Tages sagte, ich müsse nicht mit, es sei zu anstrengend für sie.
    Ja, mein Leben ging weiter. Irgendwann ging ich sogar zu normalen Zeiten in den Hausschuhkeller und ließ mich von den Jungen begrabschen. Es war ein Spiel, und ich war schließlich schon dreizehn.
    »Der Schuldirektor will mit dir sprechen, Papa«, sagte ich beim Abendbrot.
    »Der Schuldirektor? Warum denn das?«
    »Ich weiß nicht, hat er nicht gesagt. Er hat nur gesagt, dass er vorbeikommen und mit dir reden will.«
    »Er will vorbeikommen? Das ist komisch. Hast du was angestellt?«
    »Nö.«
    Der Schuldirektor war ein dicker kleiner Mann mit Glatze, Schweißhänden und Fistelstimme. Niemand mochte ihn, auch die Lehrer nicht. Es ging das Gerücht, er habe den Posten an der Schule nur bekommen, weil seine Frau die Schwester irgendeines hohen Tieres im Parteiapparat sei.
    »Guten Tag, Genosse Zweiter Sekretär«, zwitscherte er und streckte meinem Vater eilfertig die Hand entgegen. Der nahm sie, um sie sehr schnell wieder loszulassen und an seiner Hose trockenzuwischen, nachdem er den Dicken hereingebeten hatte. Ich hätte ihn warnen sollen.
    Im Wohnzimmer bot er dem Direktor einen Stuhl an und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Ich blieb stehen.
    »Deine Tochter hier …«, flötete der Direktor und nickte gönnerhaft in meine Richtung, »… macht sich ausgesprochen gut in der Schule.« Ich wusste überhaupt nicht, wovon er sprach. Ich war gutes Mittelmaß, stand immer zwischen Zwei und Drei – von »ausgesprochen gut« konnte also nicht die Rede sein. Auch mein Vater schien einigermaßen überrascht. »Tatsächlich«, sagte er und sah mich dabei fragend an. Ich zuckte mit den Schultern.
    »O ja, Genosse«, schleimte der Direktor. »Und ich habe mir Gedanken gemacht. Was hältst du davon, wenn wir sie Abitur machen ließen?«
    »Abitur?« Mein Vater legte die Stirn in Falten. »Wenn ich nicht irre, werden nur drei oder vier der besten Schüler an

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