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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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und rhythmisch Kampfparolen riefen. Das beeindruckte mich und machte mir gleichzeitig Angst. Kleine Soldaten. Kleiner noch als mein ältester Bruder, als mein Vater ihn in die Kadettenanstalt gesteckt hatte. Ich lernte, auf Arabisch bis zehn zu zählen, und erfuhr, was auf Polnisch »Ich liebe dich« heißt.
    Der Junge hieß Marek und war schon fünfzehn. Er war nicht viel größer als ich, etwas linkisch und sehr schüchtern. Genau wie ich. Beim Essen sah er verstohlen zu mir herüber. Nach einer Woche kam er an unseren Tisch und schenkte mir seinen Schokoladenpudding. Einfach so. Er lächelte und sagte nichts. Die Mädchen am Tisch kicherten, und wir beide wurden rot.
    Am Abend war Disco, und er forderte mich zum Tanzen auf. Danach gingen wir miteinander. Ich war nicht verliebt, doch ich fand schön, dass er es war. Es machte mich erwachsen. Hand in Hand zogen wir durch die Gegend, gingen baden oder tranken am Kiosk Brause. Marek brachte mir die Rückhand beim Tischtennis bei, ich zeigte ihm ein paar Griffe auf der Gitarre. Wir redeten kaum miteinander – er sprach kein Deutsch, ich verstand kein Polnisch. Es war schön – bis zu jenem Abend, als er plötzlich anfing zu sprechen. Wir waren wieder spazieren gegangen, wie immer schweigend. Plötzlich blieb Marek stehen und hielt meine Hand fest. Er begann zu reden. Polnisch. Bestimmt fünf Minuten lang, ohne Pause. Ich verstand kein Wort. An seiner Erregung erkannte ich, dass er mir sehr wichtige Dinge sagte. Als er fertig war, sah er mich bedeutungsvoll an. Er erwartete wohl, dass ich auch etwas sagte, doch ich schwieg. Dann zog er mich zu sich heran und küsste mich. Sehr lange und sehr feucht – ich dachte, er hört nie mehr damit auf. Es fühlte sich an wie ein nasser warmer Waschlappen. Ich war enttäuscht. Er spürte das und ließ mich los. Auch für den Rest der Ferien. Ich glaube, er schämte sich. Und ich schämte mich auch. Wir gingen uns aus dem Weg. – Mein erster Kuss war eine Katastrophe. Doch ich sollte zwei Tage später noch einen bekommen.
    Die palästinensischen Kinder bekamen Besuch von ihrem Palästinenserführer, und ich durfte ihn begrüßen und eine kleine Rede halten, die ich selbst schreiben sollte. Ich bekam einen Zettel, auf dem die Worte standen, die unbedingt darin vorkommen mussten: Kinder der Welt, Sozialismus, Frieden, Freundschaft, Solidarität und so weiter. Ich war aufgeregt, als ich meine Rede hielt. Der Palästinenserführer hatte lässig die Arme vor der Brust verschränkt und lächelte, während ihm übersetzt wurde, was ich sagte. Dann kam er auf mich zu, nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich auf die Wange. Sein Kuss war trocken und kurz. Ich mochte den Mann, und ich war stolz, dass er mich offenbar auch mochte.
    Die Sommerferien gingen zu Ende, und ich fuhr wieder nach Hause. Glücklich und voller Geschichten, die ich meinen Eltern und meinem Bruder erzählen wollte. Mein Vater holte mich vom Zug ab. Er sah blass aus und hatte Ringe unter den Augen. Ich ahnte, dass etwas nicht in Ordnung war, doch ich plapperte drauflos. Ich wollte ihm keine Gelegenheit geben, meine Ahnung zu bestätigen.
    Unsere Wohnung war still, als wir nach Hause kamen, es war niemand da. Die Tür zum Zimmer meines Bruders stand offen. Sein Bett war weg, das Bücherregal war leer, und das Jimi-Hendrix-Poster fehlte. Er war ausgezogen, um in Leipzig zu studieren. Das hatte ich ganz vergessen.
    »Die Alten gehen mir auf die Nerven, ich muss hier weg«, hatte er immer wieder gesagt. Doch mein Bruder sagte viel, wenn der Tag lang war. Ich hatte ihm nicht geglaubt. Ich wollte nicht. Und jetzt war er weg.
    »Kann ich in sein Zimmer ziehen, Papa?«
    »Ja.«
    »Und wo ist Mama?«
    »Im Krankenhaus.«
    »Schon wieder?«
    »Ja. Aber das wird wieder.«
    Diesmal glaubte ich ihm nicht. Ich ging in mein Zimmer und packte meinen Koffer aus. Als ich damit fertig war, glaubte ich ihm immer noch nicht. Wir fuhren ins Krankenhaus.
    »Erschrick nicht, wenn du sie siehst«, sagte mein Vater, als wir die Treppe zu ihrer Station hinaufstiegen. »Es ging ihr nicht so gut in den letzten Wochen.« Ich nahm mir vor, nicht zu erschrecken. Und ich erschrak nicht.
    Das Zimmer roch nach ihrem Parfüm. Meine Mutter saß komplett angezogen an einem kleinen Tisch neben dem Krankenbett, sah in den Spiegel ihrer Puderdose und schminkte ihre Lippen. Sie sah aus wie eine Besucherin, nicht wie eine Patientin. Sie war schön, und ich wusste gar nicht, was mein Vater meinte.

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