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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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was für dich dabei ist.«
    Ich brauchte dringend neue Jeans. Meine alten waren mir längst schon zu klein geworden, und meinen Vater konnte und wollte ich nicht darum bitten, mir von seinen Reisen eine neue Hose mitzubringen. Für ihn war das Tragen von Jeans Ausdruck einer Haltung, die er verurteilte. »Wir produzieren in unserem Land doch auch anständige Kleidung«, pflegte er kopfschüttelnd zu sagen. Von ihm hatte ich also nichts zu erwarten.
    Ich aß die Linsen und das Brot, und die Freundin meines Bruders erzählte mir, dass sie gerade eine Prinzessin in einem Märchenfilm gespielt habe. »Eine Zicke, aber Zicken spielen macht Spaß«, sagte sie und zog an ihrer Zigarette. Es sah toll aus, wie sie rauchte – so cool wie ein Kerl und trotzdem elegant wie ein Filmstar. Ich hatte gerade mit dem Rauchen angefangen und studierte ihre Bewegungen ganz genau.
    Als ich aufgegessen hatte, ging ich ins Schlafzimmer und durchwühlte die aussortierten Klamotten. Ich fand eine Levi’s, die schon prima ausgeblichen, jedoch am Hintern ein bisschen eingerissen war. Ich probierte sie an, sie passte, und ich zog sie nicht mehr aus. Ich ging ins Wohnzimmer und lief zwischen den Leuten umher, von denen ich einige kannte. Die meisten waren Künstler – Schriftsteller, Schauspieler, Musiker. Mein ältester Bruder war umringt von jungen Männern und hübschen Mädchen. Er trug eines seiner weichen karierten Baumwollhemden und rauchte eine seiner filterlosen Westzigaretten. Er redete mit ernstem Gesicht über ernste Dinge, und die Leute hörten ihm mit ernsten Gesichtern zu. Ich stellte mich dazu und machte auch ein ernstes Gesicht. Ich kam mir sehr erwachsen vor. Neben mir stand ein gutaussehender Typ mit dunklen Locken und betrachtete mich grinsend von der Seite. »Du bist die kleine Schwester, oder?« Ich nickte und grinste zurück. Er bot mir eine Zigarette an, ich nahm sie und ließ mir von ihm Feuer geben. Ich ahnte, dass ich noch viel würde üben müssen, um so lässig zu rauchen wie die Freundin meines Bruders.
    »Ich bin Valentin«, sagte der Lockenkopf, gab mir die Hand, und wir plauderten ein bisschen. Ich war froh, dass er mich nicht behandelte wie die kleine Schwester, sondern wie jemanden, der hierhergehörte. »Wir gehen später noch ins Kino«, sagte er schließlich. »In die Spätvorstellung im Babylon. Komm doch mit, wenn du willst.« Ich wollte, aber ich konnte nicht. Ich musste um zehn zu Hause sein, sonst würde mein Vater ausrasten.
    »Geht leider nicht, ich bin noch verabredet«, log ich.
    »Verstehe«, sagte Valentin. »Dann vielleicht ein andermal, ruf mich doch mal an.« Er schrieb mir seine Telefonnummer auf einen Zettel, klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und ging woanders hin.
    Mit meinem Bruder sprach ich an diesem Abend nicht mehr, doch das war nicht schlimm. Ich hatte neue Jeans, und ich hatte meinen Spaß. Aus einer der herumliegenden Schachteln klaute ich mir ein paar Zigaretten und fuhr mit der S-Bahn zurück in mein anderes Leben. Im Fahrstuhl zog ich die Jeans aus und meine alte Hose wieder an.
    »Wo kommst du jetzt her?« Mein Vater saß vor dem Fernseher und schaute die Spätnachrichten. »Es ist schon zehn nach zehn!« Ich erzählte ihm, ich sei mit einer Freundin im Jugendclub gewesen. Mein Vater mochte es nicht, wenn ich zu meinen Brüdern ging. Er machte sich Sorgen, sie könnten mich mit ihrem unordentlichen Leben und ihren noch viel unordentlicheren politischen Ansichten beeinflussen. Er machte sich zu Recht Sorgen.
    »Du riechst nach Rauch«, sagte er. »Raucht ihr etwa?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, wir nicht. Aber die anderen.«
    »Aha«, sagte mein Vater – ich wusste, dass er mir nicht glaubte.
    »Ich geh schlafen«, sagte ich.
    »Gut. Und lüg mich nicht an.«
    »Klar. Gute Nacht, Papa.«
    »Gute Nacht.«
     
    Der neue Job meines Vaters brachte es mit sich, dass er selten zu Hause war. Ich hatte nichts dagegen, denn während er um die Welt reiste, konnte ich durch meine Pubertät fliegen – ungestört, aufgeregt, lässig und verwirrt. Das Leben meiner Brüder faszinierte mich, und ich nahm mir vor, später auch so zu leben wie sie.
    Mein ältester Bruder schrieb Gedichte und kannte interessante Leute, mein mittlerer Bruder spielte Theater und drehte Filme, und mein jüngster Bruder studierte in Leipzig seiner Exmatrikulation entgegen. Ich war stolz, ihre kleine Schwester zu sein – auch wenn sie sich für mein Leben immer weniger zu interessieren

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