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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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Morgen darauf nicht. Ich las mir den Satz in meinem Kalender immer wieder durch. Ich sah mir die Bilder meiner Mutter immer wieder an. Ich spürte nichts und schämte mich.
    Weihnachten fiel aus. Meine drei Brüder kamen, und wir saßen am Tisch. Mein Vater sprach von praktischen Dingen: wo die Beerdigung sein würde, wer von den Genossen die Rede halten würde, welche Musik … »Hör doch mal auf damit, Vater!«, unterbrach ihn plötzlich mein ältester Bruder. »Das ist doch jetzt alles nicht so wichtig.«
    »So?«, sagte mein Vater lauernd. »Was ist denn dann wichtig, deiner Meinung nach?«
    »Hast du dich mal gefragt, wie es ihr gegangen ist in den letzten Jahren?«
    »Was meinst du damit?«
    »Sie war unglücklich neben dir, hast du das nicht bemerkt?«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Du hast sie kleingehalten und erpresst. Sie hatte überhaupt keine Chance.«
    »Woher willst du das wissen? Hat sie dir das erzählt?«
    »Das musste sie mir nicht erzählen, Vater. Es war nicht zu übersehen.«
    Ich hätte alles darum gegeben, wieder das kleine Mädchen zu sein, das man vor dem großen Krach aus dem Zimmer schickte, doch ich war kein kleines Mädchen mehr und blieb sitzen. Mein Vater erhob sich vom Tisch, ging zum Fenster, sah hinaus und schwieg. Lange.
    Plötzlich drehte er sich um, starrte meinen ältesten Bruder an und schrie: »Was bildest du dir überhaupt ein! Wann hast du sie denn zuletzt im Krankenhaus besucht? In Karl-Marx-Stadt warst du kein einziges Mal. Du hast nicht mal angerufen, um zu hören, wie es ihr geht. Du hast überhaupt kein Recht, mir Vorwürfe zu machen. Du am allerwenigsten!«
    »Das kann schon sein, Vater«, sagte mein ältester Bruder. »Das ändert aber nichts daran, dass es wahr ist.«
    »Komm lass.« Mein mittlerer Bruder legte ihm die Hand auf den Arm. »Das bringt doch nichts. Lass uns gehen.« Meine drei Brüder standen auf, zogen sich ihre Jacken an, küssten mich und gingen. Als sie weg waren, ging ich in mein Zimmer, schmiss mich aufs Bett und heulte. Mein Vater kam irgendwann rein, streichelte mir über den Kopf und schwieg. Ich wünschte mir, es wären die Hände meiner Mutter, und konnte sehr lange nicht aufhören zu weinen.
    Ein paar Tage später war die Beerdigung. Ein Funktionär hielt eine Rede, sie spielten einen traurigen Marsch, und die Urne meiner Mutter verschwand in der Erde. Wir fünf standen nebeneinander und gehörten zusammen. Für kurze Zeit.
     
    »Komm rein!«, sagte mein ältester Bruder, und noch bevor ich die Wohnungstür wieder geschlossen hatte, war er schon durch den Flur entschwunden. Seit wir wieder in Berlin waren, besuchte ich ihn oft in seiner Wohnung in der Mitte der Stadt. Es war eine schöne Wohnung mit großen Zimmern, hohen Wänden und einem Erker. Im größten Zimmer standen zwei schwere, alte, braunlederne Sessel, aus denen man nie mehr aufstehen wollte. Statt einer Lampe hing eine Glühbirne von der Decke. An der nackten Wand über dem Schreibtisch standen Telefonnummern und Gedankenfetzen. Immer wenn mein Bruder telefonierte, kritzelte er dabei irgendetwas an diese Wand. Eine Schriftstellerwohnung.
    Er hatte mir ein Heftchen mit seinen Gedichten geschenkt, das gerade in einer Reihe veröffentlicht worden war, die »Poesiealbum« hieß. Doch was darin stand, hatte so gar nichts mit den Kitschversen zu tun, die wir uns als Kinder früher in unsere Poesiealben geschrieben hatten.
    Ich zog meinen Mantel aus und ging durch den langen Flur. Aus den Zimmern drangen Stimmengewirr und Musik. Überall saßen und standen Leute und redeten, rauchten, lachten und tranken. Einige von ihnen nickten mir zu und vertieften sich wieder in ihre Gespräche.
    In der Küche fand ich die Freundin meines Bruders. Sie war Schauspielerin, hatte kurzes blondes Haar und wunderschöne tiefe Augen. Eine Zigarette lässig im Mundwinkel, stand sie am Herd und rührte in einem großen Topf.
    »Linsen«, sagte sie, als sie mich sah. »Gerade fertig. Willst du?«
    »Klar.« Ich setzte mich an den Küchentisch, sie stellte mir einen Teller hin und gab mir eine Kelle von den Linsen. »Wie geht’s dir denn so?«, fragte sie und setzte sich zu mir. »Alles ok«, sagte ich. »Schule nervt, aber ist ja nächstes Jahr vorbei.« Sie nickte. »Und dann?« Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß noch nicht.«
    »Ach übrigens«, sagte sie, schnitt eine Scheibe Schwarzbrot ab und gab sie mir. »Da liegen ausgemusterte Klamotten drüben im Schlafzimmer. Kannst ja mal gucken, ob

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