Ab jetzt ist Ruhe
fremden Land zu hören. Komisch und schön. Wir verabredeten uns im Hotel.
»Ist es nicht absurd«, sagte Tamás. »Da wohnt ihr in derselben Stadt nur ein paar Kilometer voneinander entfernt und müsst in ein fremdes Land reisen, um euch zu sehen. Das ist doch absurd!« Ja, es war absurd, doch so war es nun einmal.
Ich ließ mir von Tamás den Weg erklären, sog noch einmal die Wärme aus der Umarmung seiner Frau und verabschiedete mich. Ich lief zum Kiosk, holte meine Sachen, bedankte mich bei Lászlo und musste ihm versprechen, noch mal vorbeizukommen, bevor ich wieder nach Hause fuhr.
Der Bus brachte mich über die Donau auf die andere Seite der Stadt. Am Ufer des Flusses und am Fuß des Gellért-Berges lag das Hotel – riesengroß und vornehm und sehr einschüchternd. Ich holte tief Luft, und als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, schlenderte ich mit meinem Riesenrucksack und einem, wie ich fand, sehr lässigen Gesichtsausdruck an dem Portier vorbei, der mir eilfertig die hohe messingumrahmte Glastür aufhielt.
Eben hatte ich noch auf einem dreckigen Dachboden gehockt, jetzt lief ich über die glänzenden Marmorböden eines Hauses, in dem die Zeit stillzustehen schien. Schwere Kronleuchter hingen von den Decken und tauchten die Hotelhalle in warmes Licht, in edlem Mobiliar saßen gutgekleidete Leute und redeten mit gedämpften Stimmen, und Hotelpagen in dunkelblauen Livrees und mit schiefen Kappen glitten geräuschlos mit dem Gepäck der Reisenden durch die Halle. Ich kam mir vor wie in einem der alten Filme, die Oma Potsdam so gern im Fernsehen geschaut hatte.
Ich ging zur Rezeption, wo der Concierge gerade einem älteren Ehepaar mit weißem Pudel lächelnd die Zimmerschlüssel aushändigte. Dann wandte er sich mir zu. Sein Lächeln erstarb, seine linke Augenbraue hob sich, und er ließ seinen Blick über mein ungekämmtes Haar, mein nicht mehr so ganz frühlingsfrisches T-Shirt und meine straßenstaubigen Jeans gleiten. Mit einem einzigen Blick gelang es ihm, dass ich mich noch schmutziger fühlte, als ich ohnehin schon war. Das hatte bisher nur meine Stiefmutter geschafft.
Ich nannte ihm den Namen meines Bruders und bat ihn darum, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass seine Schwester da sei. Er blätterte betont langsam in seinem Empfangsbuch, griff zum Telefonhörer und rief an. Während er mit meinem Bruder sprach, legte er seinen Kopf arrogant nach hinten und gab so den Blick auf das erstaunliche Innenleben seiner Nasenlöcher frei. Ein widerlicher Anblick.
»Ihr Herr Bruder kommt gleich«, sagte der Concierge herablassend, während er den Hörer wieder auflegte. »Danke«, äffte ich seinen Tonfall nach, wandte ihm den Rücken zu und ließ mich vielleicht etwas zu entspannt in einen der roten Samtsessel fallen. Ich hatte die Last meines Rucksacks unterschätzt und wäre um ein Haar mit dem Sessel umgekippt. Kurz darauf erschien mein Bruder in der Hotelhalle. Ich winkte, er schaute etwas irritiert und kam dann auf mich zu.
»Ich hätte dich fast nicht erkannt«, sagte er, und ich war mir nicht sicher, ob das mit meinem Alter oder meinem momentanen Zustand zu tun hatte. Mein Bruder nahm mir den Rucksack ab, und ich folgte ihm zum Fahrstuhl. Als wir an der Rezeption vorbeikamen, nahm ich mir aus der großen Messingschale mit dem frischen Obst zwei Äpfel und warf dem Concierge einen arroganten Blick zu. Er notierte gerade angelegentlich etwas in sein Empfangsbuch und schien mich zu ignorieren, doch um seine schmalen Lippen meinte ich ein leichtes Zucken zu erkennen.
»Wann musst du wieder zurück?«, fragte mich mein Bruder im Fahrstuhl.
»Übermorgen.«
In den verspiegelten Wänden des Aufzugs sah ich, dass sich auf seinem Hinterkopf an einer kleinen Stelle das Haar zu lichten begann, und auch seine Geheimratsecken machten sich wichtiger als noch vor drei Jahren. Er war jetzt vierunddreißig, fast doppelt so alt wie ich. Und als könne er meine Gedanken lesen, sagte er: »Du bist jetzt achtzehn, oder?«
»Genau. Und du musst mich heiraten. Hast du versprochen!«
»Hab ich das?«
»Ja, an meinem sechsten Geburtstag.«
»Hm.«
Wir stiegen aus dem Fahrstuhl und liefen über die dicken Teppiche des Hotelflurs bis zu einer Tür. Er klopfte an, und seine Freundin öffnete. Sie trug einen Bademantel, hatte ein Handtuch um den Kopf geschlungen, und in ihrem Mundwinkel klemmte eine Zigarette – lässig wie immer.
»Da bist du ja«, sagte sie, nahm die Zigarette aus dem Mund und
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