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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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immer auf alles und seid so schüchtern, dabei kenne ich euch auch anders.« Und dann erzählte er mir, dass er ein paar Jahre in Karl-Marx-Stadt gearbeitet habe. Karl-Marx-Stadt … Ich konnte es nicht fassen. In der Neubausiedlung, in der ich damals lebte, gab es einen Block, in dem nur ungarische Gastarbeiter wohnten. Besonders auf uns Mädchen übte dieses Wohnheim eine magische Anziehungskraft aus. Die jungen Männer, die dort lebten, sahen viel besser aus als unsere pickligen Klassenkameraden. Sie kamen aus dem Süden und waren erwachsen. Verstohlen und erregt liefen wir manchmal an dem Haus vorbei und kicherten, wenn die Ungarn uns hinterherpfiffen. Ich erzählte es ihm, und er hörte belustigt zu.
    »Genau da habe ich gewohnt«, sagte er. »Darauf müssen wir trinken!« Er goss heißen Kaffee aus seiner Thermoskanne in eine Tasse und reichte sie mir. »Ich bin Lászlo.« Wir stießen an und redeten über die alten Zeiten, die wir nur hundert Meter voneinander entfernt erlebt hatten. Nur waren seine alten Zeiten so ganz anders als meine. Wir staunten. Alle beide.
    Schließlich berichtete ich ihm von meinem Irrtum und der schlimmen Nacht, die ich hinter mir hatte.
    »Manchmal geht das Leben komische Wege«, sagte Lászlo nachdenklich. Er sei auch mal einen Tag zu früh angekommen und habe seine Freundin mit einem anderen erwischt. Das sei der Grund gewesen, warum er in die DDR gegangen sei. »Ich musste weg«, sagte er. »Einen Strich machen, verstehst du?« Ich verstand.
    Lászlo schlug mir vor, meine Sachen vom Dachboden zu holen und zu ihm in den Kiosk zu bringen. »Und wenn der Freund deines Bruders nicht wiederkommt, kannst du bei uns schlafen, wenn du willst.« Ich schaute ihn fragend an, er zeigte auf seinen Ehering: »Drei Jungs!«, sagte er stolz. Ich bedankte mich bei ihm und ging. Es war ein schönes Gefühl, plötzlich jemanden in dieser Stadt zu kennen.
    Zurück auf dem Dachboden, pinkelte ich in eine der Ecken, in der ich vorher die Taube vermutet hatte, wusch mich notdürftig mit dem Wasser aus einer der Flaschen, putzte mir die Zähne, packte meine Sachen zusammen und ging die Treppe hinunter. Vor Tamás’ Wohnung blieb ich stehen und lauschte. Ich glaubte, etwas zu hören, doch es war noch zu früh, um zu klingeln. Ich würde später wiederkommen.
    Ich stellte meinen Rucksack bei Lászlo unter und ließ mir von ihm den Weg zum Stadtwäldchen erklären, wo ich mich in den Schatten legte und durch den Vormittag döste, bis mir langweilig wurde. Ich kehrte zu Tamás’ Haus zurück, ging die Treppe rauf und klingelte. Es öffnete mir ein etwas untersetzter Mann mit dunklem, verwüstetem Haar und Vollbart. Er sah müde aus und schaute mich griesgrämig an. Ich wünschte ihm auf Ungarisch einen guten Tag, und nachdem ich meinen Namen gesagt hatte, hellte sich seine Miene etwas auf. »Ja, natürlich«, sagte er auf Deutsch. »Komm rein.«
    Ich betrat einen langen, engen Flur, an dessen hohen Wänden zu beiden Seiten Bücherregale standen, die bis zur Decke reichten und sich dort auf bedrohliche Weise einander zuneigten. Ich zog instinktiv den Kopf ein. Tamás bemerkte es, lächelte und erklärte mir, dass hier noch niemand von Weltliteratur erschlagen worden sei. »Obwohl das bestimmt nicht der schlechteste Tod ist«, fügte er hinzu. Von irgendwo rief eine weibliche Stimme etwas auf Ungarisch. Tamás antwortete ihr und schob mich in eines der Zimmer, die vom Flur abgingen. Kurz darauf erschien eine kleine Frau, stürzte auf mich zu und umarmte mich, als sei ich die verlorene Tochter, die nach Jahren der Ungewissheit endlich zurückgekehrt war. Ich gab mir keine Mühe, mich aus ihrer Umarmung zu befreien. Die Frau war weich und warm und roch nach Kaffee. Viel zu früh ließ sie mich wieder los. »Du bist bestimmt hungrig«, sagte sie. Ich war nicht hungrig. »Willst du was trinken?« Ja, Kaffee. Sie flog aus dem Zimmer.
    »Setz dich doch«, sagte Tamás. »Hattest du eine gute Reise?« Ich überlegte kurz, ob ich ihm von meiner Nacht auf dem Dachboden erzählen sollte, ließ es aber bleiben. Ich nickte nur und ließ mich in das große, schwere Sofa sinken. Tamás’ Frau kehrte mit Kaffee zurück, wir redeten über dies und das, und schließlich fragte ich sie nach meinem Bruder.
    »Wir haben ihn gestern vom Flughafen abgeholt«, sagte Tamás. »Er wohnt im Gellért.« Er rief im Hotel an, ließ sich verbinden und reichte mir den Hörer. Es war komisch, die Stimme meines ältesten Bruders in einem

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