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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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ist er gegen dich, und du machst, dass ich Sachen tue, die ich nicht will, weil ich Angst vor dir habe.« Ich hörte mir selbst atemlos zu. Was redete ich da? Und warum? Mein Herz klopfte, und ich wagte nicht, meinen Vater anzusehen.
    Er sagte nichts. Draußen fuhr eine Straßenbahn vorbei, irgendwo lief ein Fernseher, und unter dem Stuhl, an den ich mich klammerte, klebte ein harter, alter Kaugummi. Vermutlich war der sogar von mir.
    »Angst?«, sagte mein Vater nach einer Weile. Seine Stimme klang heiser. »Du hast Angst vor mir?«
    Langsam hob ich den Kopf. Sein Gesicht war grau. Erst jetzt bemerkte ich, dass er unrasiert war. Die tiefe Furche zwischen seinen Brauen war verschwunden, stattdessen lag jetzt seine Stirn in Falten, was es nicht gerade besser machte.
    »Naja«, sagte ich leise. »Du bist oft so hart.«
    »Was willst du damit sagen?«
    Ich starrte wieder auf den Tisch und studierte das Muster auf der Tischdecke, die meine Stiefmutter irgendwann gekauft hatte – ein hässliches Wachstuch mit kitschigem Blumenmuster. Warum hatte er die immer noch?
    »Ich hab dich was gefragt.«
    Mein Kopf war leer.
    »Wieso bin ich hart?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich stockend. »Als dein Sohn gestorben ist … da bist du am nächsten Tag einfach weggefahren.«
    »Das musste ich.«
    »Nein«, sagte ich und schaute meinen Vater an. »Du hättest hierbleiben müssen.«
    »Du kannst mir glauben, dass ich lieber hiergeblieben wäre.«
    »Bist du aber nicht.«
    Jetzt war er es, der nach unten starrte und die hässlichen Blumen auf der Tischdecke studierte.
    »Du verstehst das nicht.«
    Ich spürte, wie die Leere aus meinem Kopf wich und einem klaren Gedanken Platz machte.
    »Stimmt, das verstehe ich nicht«, sagte ich fest. Mein Vater hob den Kopf. Da war sie wieder, die tiefe Furche zwischen seinen Brauen.
    »Du bist unverschämt.«
    »Ich bin kein Kind mehr. Du redest mit mir, als wär ich noch ein Kind.« Mein Vater stand auf, ging zum Fenster, schaute hinaus und schwieg.
    »Warum bist du weggefahren, Papa?«
    »Manchmal muss man persönliche Interessen hinter gesellschaftliche Erfordernisse stellen«, sagte mein Vater kühl. Wie ich diesen Ton hasste, dieses schulmeisterliche Funktionärsgewäsch. Plötzlich hielt ich den alten Kaugummi, der unter meinem Sitz geklebt hatte, in der Hand.
    »Dein Sohn ist gestorben. Und ich bin deine Tochter.« Mein Vater stand da, ungerührt und kalt.
    »Papa!«
    Eisiges Schweigen.
    »Siehst du«, sagte ich. »Du bist hart.«
    Mein Vater drehte sich um und sah mich an. »Vielleicht bin ich hart.« Seine Stimme war tonlos. »Aber ich habe eine Verantwortung der Partei gegenüber.«
    Ich versuchte, meinen Daumennagel in den Kaugummi zu kerben, doch es gelang mir nicht. Das Ding war steinhart.
    »Du und deine Partei«, sagte ich leise und starrte wieder auf die Tischdecke.
    »Wie bitte?«
    »Du und deine Partei«, wiederholte ich etwas lauter und sah meinen Vater an. »Die war dir ja immer wichtiger als alles andere.«
    »Dein Ton gefällt mir nicht«, sagte er schneidend. »Und außerdem ist es ja wohl auch deine Partei, oder?«
    Ich schwieg.
    »Ich rede mit dir!«
    »Es ist nicht meine Partei. Ich bin da nur deinetwegen drin.«
    »Wie bitte?«
    »Ich bin da reingegangen, weil du es von mir erwartet hast und weil ich zu feige war, es nicht zu tun.«
    Die Augen meines Vaters verengten sich.
    »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
    »Doch. Warum sollte ich denn freiwillig in eine Partei gehen, wegen der du dich beinahe umgebracht hättest?« Ich konnte es kaum fassen, dass ich es war, die das sagte. Doch diese Stimme gehörte mir.
    Das Gesicht meines Vaters gefror, er hob den Arm und holte aus. Ich erschrak und zog den Kopf ein. Er ließ den Arm wieder sinken. Ich hatte meinen Vater schon manchmal so gesehen, wenn er mit meinen Brüdern stritt. Er hatte nie zugeschlagen, es war immer bei der drohenden Geste geblieben. Dies war das erste Mal, dass er die Hand gegen mich erhob. Ich spürte, wie sich meine Kehle zusammenzog. Mir war zum Heulen. Ich hatte Angst. Ich wollte weg.
    Mein Vater setzte sich an den Tisch und schaute mich mit leeren Augen an.
    »Was mache ich bloß falsch?« Ich wusste, dass er von mir keine Antwort darauf erwartete, und schwieg.
    »Ich habe gedacht, du wärst anders als deine Brüder.«
    Vor einer Minute hätte mich dieser Satz noch stolz gemacht, denn alles, was mein Vater an seinen Söhnen verurteilte, bewunderte ich an ihnen. Vor einer Minute fühlte ich mich ihnen

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