Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
Vom Netzwerk:
Sie liebten mich, wie man eben eine kleine Schwester liebt, die nicht erwachsen wird. Ich war und blieb die Kleine, das Mäuschen – ich hatte mich daran gewöhnt. Nur wenn sie sich stritten und einer den anderen mal wieder nicht leiden konnte, wurde ich interessant, und sie beschwerten sich bei mir übereinander. Ich liebte beide auf gleiche Weise und fand ihre Eifersucht und ihr Konkurrenzgehabe kindisch.
    Nun saßen wir also da oben im Fernsehturm und schauten hinunter auf die Stadt, die von hier oben groß und weit und ungeteilt aussah. »Es ist doch mal ganz gut, so draufzugucken«, sagte mein ältester Bruder. »Dann tut der Riss auf einmal gar nicht mehr so weh, und die eigene Heuchelei relativiert sich auch.«
    »Was meinst du damit?«, fragte mein jüngster Bruder.
    »Du glaubst doch nicht wirklich, ich bin hier, weil ich dringend mal über den Frieden reden müsste. Man weiß doch, dass bei einem solchen Jahrmarkt der Eitelkeit nichts Vernünftiges rauskommt. Ich bin hier, damit sie mir ein Visum in meinen DDR -Pass stempeln und ich endlich wieder ganz normal in das Land reisen kann, aus dem ich komme. Ich werde sonst sentimental, und das hat dieses Land hier auch nicht verdient.«
    Wir tranken unseren Kaffee aus und fuhren wieder hinunter.
    »Kann ich bei dir übernachten?«, fragte mich mein ältester Bruder, bevor wir uns trennten. Ich nickte.
    »Du kannst auch bei mir schlafen«, sagte mein jüngster Bruder.
    »Nein, lass mal.«
    So ein Kindergarten, dachte ich.
    »Er ist ein arrogantes Arschloch«, sagte mein jüngster Bruder, als wir wieder allein waren. »Viel Spaß mit dem Idioten!«
    Ich fuhr nach Hause und schaltete den Fernseher ein. In den Nachrichten brachten sie einen Bericht von dem Treffen, an dem mein Bruder teilnahm. Mein Vater rief an.
    »Hast du ihn gesehen?«
    »Ja.«
    »Was sagt er?«
    »Nichts Besonderes. Er will seinen Pass verlängern lassen, glaube ich.«
    »Ich weiß. Die Genossen haben mich darüber informiert. Wo übernachtet er?«
    »Bei mir.«
    »Hältst du das für eine gute Idee?«
    »Er übernachtet nur hier, Papa.«
    »Ich verstehe dich nicht. Aber du musst ja wissen, was du tust. Wiederhören.« Mein Vater legte den Hörer auf.
    Spät in der Nacht kam mein Bruder zu mir. Er war betrunken.
    »Ich habe mich in die DDR verliebt«, sagte er und ließ sich auf meine Couch fallen. »Sie war schön.« Nein, er war nicht betrunken – er hatte den Verstand verloren. »Sie hatte langes schwarzes Haar.« Er war doch betrunken. »Die DDR stand in dieser Bar hinterm Tresen und war wunderschön. Ich habe ihre Telefonnummer. Morgen ruf ich sie an.« Er war betrunken und hatte den Verstand verloren. Er brabbelte noch irgendetwas von Stasi vor dem Haus, dann schlief er ein. Ich deckte ihn zu, ging zum Fenster und sah hinaus. Parkende Autos, leere Straße, sonst nichts. Ich ging ins Bett.
     
    Am nächsten Morgen machte ich uns Frühstück. Es war schön und unkompliziert. Wir redeten über Musik, er erzählte mir, dass er im Radio ein Lied gehört habe, das ihm nicht mehr aus dem Kopf gehe und das er unbedingt haben müsse. »Es war ein Schlager von so einem Mädchen mit kurzen Haaren.« Als er mir den Refrain vorsang, musste ich mir das Lachen verkneifen. Mein Kitschbruder, unglaublich.
    »Sind sie noch da?«, fragte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Fenster.
    »Die Stasi? Ich weiß nicht.«
    »Gestern waren sie die ganze Zeit da. Wovor haben die bloß solche Angst?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht denken sie, du willst mich in den Westen schmuggeln.«
    »Ach, für dich interessieren die sich doch nicht.«
    Ich wusste, dass er recht hatte, trotzdem verletzte mich die Art, wie er es sagte. Ich schwieg.
    Wir fuhren zum Plattenladen am Alexanderplatz, wo ich ihm die Single der Schlagersängerin kaufte. Dann gingen wir in einen Intershop, und er schenkte mir ein Album von den Doors. Vor dem Hotel, in dem das Friedenstreffen stattfand, verabschiedeten wir uns. Am Abend fuhr er wieder nach Westberlin.
     
    Im Jahr darauf starb Oma London. Sie war sehr alt geworden, und obwohl ich sie inzwischen zehn Jahre nicht mehr gesehen hatte, war ich mir sicher, dass ihr Sterben von der gleichen kühlen Eleganz war wie ihr Leben. Die Nachricht von ihrem Tod erschütterte mich nicht besonders – diese Frau war für mich nie mehr gewesen als eine unnahbare, schöne alte Dame, die gut roch. Meine Mutter hatte nicht sehr oft von ihr gesprochen, und wenn, dann eher distanziert.
    Jetzt war Oma London

Weitere Kostenlose Bücher