Ab jetzt ist Ruhe
Schneiden, und der DJ bediente sich inzwischen aus der untersten Disco-Schublade. Die Masse war trunken, die Tanzfläche voll und mittendrin Katja. Selbstvergessen drehte sie sich und warf den Kopf hin und her. Ich versuchte, ihr ein Zeichen zu geben, doch sie sah mich nicht. Ich wartete, bis die Musik vorbei war, dann drängelte ich mich zu ihr durch und zog sie zur Seite.
»Was ist denn los?« Ihre Augen waren glasig, sie war schon ziemlich hinüber. »Hans will noch woanders hin, kommst du mit?«
Sie schaute mich an wie eine Fremde. »Na, ihr scheint euch ja toll zu verstehen.«
»Was ist denn mit dir los?«
»Was soll mit mir los sein, nichts ist los.«
»Kommst du nun mit oder nicht?«
»Nein, ich komme nicht mit«, sagte sie kühl und verschwand in der tanzenden Menge. Meine Freundin war beleidigt. Ich zögerte einen Augenblick, verscheuchte einen Anflug von Schuldgefühl, holte meine Jacke und ging mit Hans dem Zwölften und seinen beiden Freunden. Mein Fahrrad ließ ich stehen.
Das Haus stand hoch über dem Meer und hatte Fenster, die bis zum Boden reichten. Es war ein Haus, wie ich es nur aus amerikanischen Filmen kannte, in denen schöne Paare in weißen Leinenklamotten Arm in Arm und barfuß am Strand entlangliefen und schicksalhafte Sätze sagten.
Die Tante des Freundes schien viel Geld zu haben. Geld, mit dem man sich Dinge kaufen konnte, die man in unserem piefigen Schrankwandland nicht ohne weiteres bekam. Bauhausmöbel, leichte helle Stoffe, ein paar ausgesuchte Antiquitäten, einen Flügel, einen Kamin und an den Wänden die Originale eines Malers, dessen Namen Hans mit großem Respekt aussprach.
Die Leute, die sich durch die erlesene Einrichtung dieses Hauses bewegten, passten nicht hierher. Es wirkte, als hätte jemand eine ganze Komparserie versehentlich in die falsche Kulisse bestellt. Es waren Leute wie Hans: Langhaarige in Jesuslatschen, Mädchen in Sackkleidern, Studenten und verkrachte Existenzen. Auch die Musik war falsch. Im richtigen Film wäre vermutlich dezenter Jazz gelaufen – hier übte sich John Lennon gerade in einer Art Urschrei-Therapie und beschwor dabei seine Mutter.
Hans schien die meisten Leute zu kennen, und während er sich unterhielt, durchstreifte ich die Räume auf der Suche nach etwas Trinkbarem. Auf einem kleinen Tisch standen eine angebrochene Weinflasche und ein leeres Glas – ich füllte es und nahm es mit auf die Terrasse. Dort standen ein paar Leute, die mit sehr ernsten Gesichtern gerade ein schlimmes Endzeitszenario entwarfen. Sie sprachen über die Neutronenbombe und den NATO -Doppelbeschluss und dass die Russen auch nicht besser seien und man auch hier auf die Straße gehen müsse, um etwas zu tun.
Ich setzte mich etwas abseits in einen der Liegestühle und hörte ihnen zu. Einer der Männer sah mich, zögerte kurz und kam schließlich zu mir herüber.
»Hallo«, sagte er. »Wer bist du denn?« Aus der Art, wie er mich fragte, schloss ich, dass er der Gastgeber sein musste. Also stellte ich mich vorsichtshalber mit meinem ganzen Namen vor und sagte, dass ich mit Hans gekommen sei.
»Hast du etwa was mit dem Schriftsteller zu tun, der jetzt im Westen ist?«
»Er ist mein Bruder.«
»Ich wusste gar nicht, dass er eine Schwester hat.«
»Wissen die wenigsten.«
»Das ist ja toll«, sagte er und musterte mich plötzlich um einiges interessierter als eben noch. Dann reichte er mir die Hand.
»Matthias. Ich bin der Gastgeber.«
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
»Ich hab alles von deinem Bruder gelesen.«
»Aha.«
So stolz es mich auch machte, dass mein Bruder inzwischen berühmt war, so sehr nervte es mich, wenn mich Leute aus diesem Grund auf einmal interessant fanden. Und das war jetzt nicht anders. Außerdem war der Typ unsympathisch und hatte lange schmutzige Zehennägel. Ich wurde einsilbig, und irgendwann zog er ab.
Ich zündete mir eine Zigarette an, trank und hörte dem Meer zu, das gutmütige Wellen ans Ufer trieb. Der Wind war mild und roch nicht mehr nach Regen. Es ging mir gut, und irgendwann schlief ich ein.
»Ach da bist du, ich hab dich überall gesucht.« Hans.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte. Ich war benommen, und mir war kalt.
»Es ist gleich drei. Ich glaube, ich hau ab. Kommst du mit?«
»Ja.«
Das Haus war inzwischen fast leer, die meisten Leute waren schon gegangen und die wenigen, die noch da waren, würden auch nicht mehr lange durchhalten. Janis Joplin kämpfte gerade
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