Ab jetzt ist Ruhe
grinste mich an, ich grinste zurück. Als ich meinen Einkauf zum Auto trug und auf die Rückbank stellte, stand er plötzlich hinter mir.
»Ich habe bei euch noch nie jemanden getroffen, der einfach so zurücklächelt«, sagte er in fast akzentfreiem Deutsch und streckte mir seine schwarze Hand entgegen. »Paul.«
Paul erzählte mir, dass er aus Simbabwe komme, in der DDR Medizin studiert habe und jetzt hier seinen Onkel besuche, der bei der Botschaft arbeite. Wir unterhielten uns eine Weile, und ich gab ihm meine Telefonnummer. Zwei Tage später rief er mich an, und wir verabredeten uns zum Kaffee. Wir fuhren mit meinem Auto zum Baden an einen See, und am Abend gingen wir in eine Diskothek und tanzten. Die Mädchen drehten sich um, und ich genoss ihre neidischen Blicke. Paul war groß und schön. Paul war mein Freund. Paul war ungewöhnlich. Paul war klug und witzig und liebte Heinrich Heine. Paul roch anders und küsste besser als die Männer, die ich vorher geküsst hatte. Paul war eitel und brauchte eine Stunde im Bad. Paul brauchte eine Stunde im Bad, und seine Eitelkeit fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Paul musste wieder zurück nach Simbabwe, und ich war irgendwie erleichtert. Doch er ließ mir etwas da.
Ich spürte es zum ersten Mal am Silvesterabend. Katja war eingeladen zu einem großen Fest bei einem ihrer Künstlerfreunde und wollte, dass ich mitkam. Ich hatte keine große Lust, Silvester bedeutete mir nichts. Außerdem war mir übel und ich hatte Bauchschmerzen, doch Katja überredete mich schließlich. Nach dem ersten Glas Wein wurde mir plötzlich so schlecht, dass ich mich übergeben musste. Ich ging, ohne mich zu verabschieden, und fuhr nach Hause. In der Nacht wurden meine Bauchschmerzen so unerträglich, dass ich am Morgen zum Notarzt ging. Im Wartezimmer saßen die verletzten Reste der Nacht: Brandwunden, Schürfwunden, gebrochene Nasen.
»Wie sehen Sie denn aus?« Die Schwester am Aufnahmeschalter musterte mich erschrocken. »Setzen Sie sich mal ganz schnell da hin!«, sagte sie und wies auf den leeren Stuhl gleich neben sich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich aussah – ich hatte andere Sorgen, als in den Spiegel zu sehen. Zwei Minuten später lag ich auf der Pritsche im Behandlungszimmer, und ein Arzt drückte auf meinem Bauch herum, dass ich stöhnte. Es sei die Leber, erklärte er, und dass ich sofort ins Krankenhaus müsse.
»Hepatitis B«, sagte der Oberarzt im Krankenhaus, nachdem die Untersuchungen abgeschlossen waren. »Eine Gelbsucht wie aus dem Bilderbuch. Haben Sie was dagegen, wenn sich mal ein paar Studenten mit Ihrem Fall beschäftigen?« Ich hatte nichts dagegen, denn die Aussicht, die nächsten Wochen und vielleicht sogar Monate in diesem Quarantäne-Knast zu verbringen, war trostlos genug.
Ich kam in ein Vierbettzimmer, das ich mir mit einer alten Frau und einer jungen Afrikanerin teilte. Die krebskranke Frau war durch eine Blutkonserve mit dem Hepatitis-Virus infiziert worden. Wenn sie nicht schlief, stöhnte sie, und da sie selten schlief, stöhnte sie oft. Die Afrikanerin war etwa in meinem Alter, sprach kein Deutsch, starrte den halben Tag auf den Bildschirm des winzigen Schwarzweißfernsehers, der an der Wand hing, oder schlug die Zeit vor dem Spiegel über unserem Waschbecken tot.
Wegen meiner satten gelben Hautfarbe, die mit jedem Tag intensiver zu werden schien, nannten mich die Schwestern bald nur noch »Quitte« oder »Gelbchen«. »Die Quitte muss immer schön trinken, sonst geht der Gilb nicht raus«, sagte die Oberschwester. Sie behandelte mich, als sei ich drei, und ich fragte mich, warum ausgerechnet sie Oberschwester geworden war – sie, die gefühlte zwei Stunden brauchte, um meine Vene beim morgendlichen Blutabnehmen zu finden. »Ich habe sie!«, rief sie dann aus, als sei sie auf eine Goldader gestoßen. Nach einer Woche sah meine Armbeuge aus, wie ich mir den Arm eines Fixers vorstellte. Stündlich kam eine Schwester vorbei, erkundigte sich nach meinem Befinden und forderte mich auf zu trinken, sogar nachts. »Die machen das, damit die Leber nicht versagt«, stöhnte die alte Frau. »Wenn du nicht trinkst, stirbst du.« Toll, dachte ich und versuchte wach zu bleiben. Ich hörte die alte Frau stöhnen und die junge Afrikanerin leise schnarchen. Ich versuchte einen Rhythmus in den Geräuschen der Nacht zu finden. Sie widersetzten sich. Ich fing an, Tagebuch zu schreiben, und jammerte das Papier voll. Ich hatte keine Schmerzen mehr, doch ich war
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