Ab jetzt ist Ruhe
verzweifelt gegen einen Sprung in der Platte. »Honey, cry, cry … Honey, cry cry … Honey, cry, cry …« Bis zu ihrem »Baby« kam sie nie. Es war ein aussichtloser Kampf, den Hans beendete, indem er den Plattenspieler ausschaltete.
Wir verließen das Haus und liefen schweigend hinunter ins Dorf. Die Diskothek hatte schon geschlossen.
»Soll ich dich noch nach Hause bringen?«
»Musst du nicht. Ich hab ja das Fahrrad.«
»Ach so. Na dann.«
»Na dann.«
Ich fuhr mit dem Rad nach Hause. Es dämmerte schon. Katja lag komplett angezogen bäuchlings auf ihrem Bett und schlief wie ein Stein. Ich zog mich aus, legte mich hin, und irgendwann schlief ich auch.
Am nächsten Morgen redete sie nicht mit mir. Sie war schlimm verkatert und ignorierte mich. Ich beschloss, sie in Ruhe zu lassen, nahm mein Fahrrad und fuhr durch die Gegend. Als ich mittags zurückkam, war sie nicht da. Auf dem Tisch lag ein Zettel: »Bin namenlos und betrinke mich.«
»Namenlos« war die Kneipe, in der wir gestern schon gesessen hatten. Katjas Hang zur Melodramatik ging mir auf die Nerven, doch irgendwie tat mir meine Freundin auch leid. Ich setzte mich wieder auf mein Rad und fuhr ins Dorf. Katja saß am Tresen der Kneipe, trank Sekt, ich setzte mich zu ihr und bestellte einen Kaffee.
»Ich hab mir Sorgen gemacht«, sagte sie nach einer Weile.
»Warum hast du dir Sorgen gemacht?«
»Du bist die ganze Nacht nicht gekommen. Da hab ich mir eben Sorgen gemacht.«
»Ist doch Quatsch. Du warst betrunken und hast in deinen Klamotten geschlafen.«
»Du hast doch keine Ahnung.«
Schweigen.
»Dein Hans heißt übrigens Hans-Uwe.«
»Er ist nicht mein Hans.«
Schweigen.
»Er heißt Hans-Uwe. Aber das soll keiner wissen.«
»Warum erzählst du’s mir dann?«
Schweigen.
»Hans-Uwe ist doch ein scheiß Name, findest du nicht?«
»Ja. Irgendwie schon.«
Schweigen.
»Hast du mit ihm geschlafen?«
»Quatsch.«
Schweigen.
»Mann, bist du langweilig«, sagte Katja.
»Ich weiß«, seufzte ich. »Das sagen alle.«
Meine Freundin lachte ihr heiseres Lachen, und es war wieder gut. Wir tranken aus, bezahlten, und als wir auf die Straße traten, schien die Sonne, als sei sie nie weg gewesen. Wir holten unsere Badesachen und fuhren zum Strand. Von da an taten wir das jeden Tag. An den Abenden trafen wir uns mit Hans und seinen Freunden, spielten mit ihnen Skat oder »Mensch ärgere dich nicht«, und in der Nacht bevor wir wieder nach Berlin zurückfuhren, ging ich mit Hans und schlief mit ihm. Wir blieben zwölf Wochen zusammen. Als wir feststellten, dass wir nicht verliebt genug waren, ließen wir uns wieder los.
Der Sommer verblasste, ich bestellte Kohlen für den Winter, und dann kam mein ältester Bruder über die Grenze. Ein bedeutender DDR -Dichter, dessen Stimme im Osten wie im Westen gehört wurde, hatte ihn zu einem Treffen eingeladen, bei dem Künstler und Intellektuelle aus beiden Teilen Deutschlands über den bedrohten Frieden reden sollten. Die Welt war inzwischen bis an die Zähne bewaffnet, und die Angst vor der Apokalypse war groß.
Genau fünf Jahre war es her, dass mein ältester Bruder das Land verlassen hatte. Mein jüngster Bruder und ich holten ihn vom Grenzübergang ab. Mein ältester Bruder wirkte angespannt und schien sich nicht besonders zu freuen, uns zu sehen. »Was machen wir jetzt?«, fragte er. »Können wir einen Kaffee trinken oder so was?«
»Gute Idee«, sagte mein jüngster Bruder. »Ich kenne einen ganz guten Laden in der Nähe.«
»Ich will nicht in deinen Laden. Lass uns auf den Fernsehturm fahren.«
»Wir können die S-Bahn nehmen.«
»Was du nicht sagst!« Mein ältester Bruder war gereizt. »Ich war nur fünf Jahre weg – du kannst davon ausgehen, dass ich mich hier noch einigermaßen auskenne.« Mein jüngster Bruder schwieg beleidigt. Es war seltsam: Wenn die beiden zusammen waren, wirkte mein jüngster Bruder so kindisch in seinem Bemühen, von unserem ältesten Bruder ernst genommen zu werden und es ihm recht zu machen. Das war jetzt nicht anders, und mein ältester Bruder gab sich nicht viel Mühe, seinen Widerwillen zu verbergen.
Es war eine seltsame Hassliebe, die die beiden miteinander verband. Sie waren Konkurrenten – beim Schreiben, beim Kampf um die Anerkennung unseres Vaters, sogar wenn es um unseren toten mittleren Bruder ging. Jeder nahm für sich in Anspruch, er sei der Lieblingsbruder gewesen, es war so lächerlich. Mich hingegen nahmen beide nicht besonders ernst.
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