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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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zwei Tickets, und wir liefen durch den Park. Er ging schnell, und ich fühlte mich plötzlich wieder wie das kleine Mädchen, das es immer schwer hatte, mit ihm Schritt zu halten. Mein Vater konnte nicht schlendern – er lief immer, als müsse er etwas erledigen. Vielleicht war er milder geworden, doch genießen konnte er noch immer nicht. Der einzige Luxus, den er sich nach wie vor gönnte, waren seine englischen Zigaretten, hin und wieder ein guter neuer Anzug und zwei Wochen im Jahr Urlaub in einem Ostsee-Ferienheim für gehobene Parteifunktionäre. Viele seiner Genossen fuhren inzwischen teure Westautos, er blieb bei seinem gelben Wartburg. Er war genügsam, Maßlosigkeit war ihm zuwider. »Wir können nicht Wasser predigen und Wein trinken«, sagte er manchmal. »Das gehört sich nicht.« Hatte er nicht mal Priester werden wollen?
    Jetzt also lief er durch diesen Tierpark, blieb manchmal an einem Gehege stehen, studierte den Text im Schaukasten und ging weiter. Irgendwann war auch dieser Spaziergang erledigt, und ich war sicher, dass mein Vater bestimmt nicht mehr hierherkommen würde. Ich begleitete ihn nach Hause und versprach ihm, bald wieder vorbeizukommen.

Zehn
    N ach meiner Kündigung fand ich Arbeit in der Herstellungsabteilung eines Verlages für wissenschaftliche Literatur – ein Paralleluniversum, bevölkert mit weltfremden Lektoren, schrillen Grafikerinnen, schrulligen Korrektoren und ausreisewilligen Vertriebsmitarbeitern. Die Leute waren in Ordnung, doch die Arbeit langweilte mich bald, weil ich mit den meisten Büchern, die dort gemacht wurden, nichts anfangen konnte. Also kündigte ich wieder und wechselte zu einem kleinen Musikverlag, der Noten und Partituren zeitgenössischer Musik publizierte – Musik, die ich genauso wenig verstand wie die wissenschaftlichen Bücher vorher. Ich verlor schnell die Lust und beschloss, auch diesen Job nicht ernster zu nehmen als nötig. Es wäre nur eine Frage der Zeit, dass ich etwas anderes machen würde. Ich hatte zwar noch immer keine Ahnung, was das sein könnte, doch ich war ja erst dreiundzwanzig.
    Ich saß an meinem Büroschreibtisch und malte die Zahl auf ein Blatt. 23 . Die Zahl sagte mir nichts. Dreiundzwanzig. Das Wort sagte mir auch nichts. Ich malte Striche in Fünfergruppen: vier mal fünf und dann noch mal drei – es sah lächerlich aus. Meine Brüder hatten in dem Alter schon ganz andere Dinge getan als ich jetzt. Mein ältester Bruder saß mit dreiundzwanzig als Staatsfeind im Knast, mein mittlerer Bruder war Schauspieler, und auch mein jüngster Bruder nannte sich schon mit großer Überzeugung Schriftsteller, als er dreiundzwanzig war. Sie alle wussten damals schon ganz genau, was sie wollten, nur ich hatte keinen Plan, kein Ziel, keinen Ehrgeiz. Nichts. DREIUNDZWANZIG . Ich musste etwas tun, irgendetwas, von dem ich wusste, dass am Ende etwas halbwegs Sinnvolles dabei herauskommen würde. Also meldete ich mich bei der Fahrschule an, bestand die Prüfung und kaufte mir einen gebrauchten Trabant.
    Mit dem Auto fühlte ich mich erwachsener, unabhängiger und irgendwie auch absichtsvoller, allerdings begriff ich ziemlich bald, dass das schnellere Überwinden von Entfernungen nichts mit dem Erreichen von Zielen zu tun hat, die meinem Leben eine tiefere Bedeutung geben würden.
    »Bis vierzig ist man in der Pubertät«, erklärte mein ältester Bruder am Telefon. »Das hat mir mal ein Indianer gesagt. Man muss erst ab vierzig darüber nachdenken, wer man sein und was man machen will und warum.« Er war neununddreißig.
    Ich rief meinen jüngsten Bruder an. »Ich werde heiraten«, sagte er. »Das ist erwachsen, oder?« Er heiratete eine Schauspielerin mit warmen Armen und einer kindlichen Stimme. Sie tat ihm gut, trotzdem trank er. Immer mehr, immer öfter. Sie bat ihn aufzuhören. Manchmal hörte er auf, meistens nicht. Er war achtundzwanzig. Er war nicht erwachsen.
    Mein Vater trank nicht. Er rauchte. Er hatte mit sechzehn im dunklen, schmalen Garten jenes muffigen katholischen Kinderheims in England damit angefangen und seitdem nicht mehr aufgehört. Jetzt war aus der 16 eine 61  geworden, mein Vater ging ins Krankenhaus und kam mit einem Lungenflügel weniger wieder heraus. Er war mit dem Erwachsenwerden schon so lange fertig und schien jetzt offenbar auch langsam mit dem Leben aufhören zu wollen. Und ich? Ich stieg in mein Auto und fuhr einkaufen.
    An der Kasse hinter mir stand ein großer Afrikaner mit Sonnenhut und Gipsarm. Er

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