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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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darfst?«
    »Jaja.« Mein Vater winkte ungeduldig ab. »Die Genossen sind einverstanden. Und du willst doch deinen Großvater bestimmt noch mal sehen, oder?« Er sagte es in einem Ton, der mir gebot, nicht weiter nachzufragen, also tat ich es auch nicht. Ich wusste, dass er über seinen Schatten gesprungen war und seine Prinzipien verletzt hatte. Er hatte seine Position benutzt, um mir etwas zu ermöglichen, das jedem durchschnittlichen Bürger dieses Landes versagt war – ich sollte den Teufel tun und mir darüber den Kopf zerbrechen. Ich würde in den Westen reisen, unfassbar. So oft hatte ich mir das vorgestellt und manchmal sogar nachts davon geträumt. Es war ein wiederkehrender Traum, in dem ich mich plötzlich jenseits der Grenze wiederfand. Ich lief durch die Straßen von Westberlin, die seltsamerweise immer menschenleer waren. Die Stadt in meinem Traum hatte nichts mit den Bildern zu tun, die ich aus dem Fernsehen kannte. Die Stadt in meinem Traum war so surreal und kühl, dass ich mich fremd und verloren fühlte. Ich wollte zurück, doch an der Grenze wies man mich ab, weil ich mich nicht ausweisen konnte. Es war ein beunruhigender Traum, und ich verstand ihn nicht. Doch das war jetzt egal – ich würde in den Westen reisen und selber sehen.
    Einen Monat später landeten wir in London, und kaum hatte ich meine unschuldigen Füße auf kapitalistischen Boden gesetzt, begann mein Vater, sich um meine seelische Gesundheit zu sorgen. »Lass dich davon nicht beeindrucken«, sagte er und zeigte auf eine der übergroßen Werbetafeln im Flughafengebäude. »Das ist nur Fassade. Blendwerk.«
    »Es ist bunt, Papa«, antwortete ich. »Und ich bin nicht blöd.«
    Er blieb stehen und funkelte mich böse an, doch nur einen kurzen Augenblick, dann entspannten sich seine Züge, und er nickte. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Entschuldige.« Er war nervös. Er war so viel nervöser als ich.
    Draußen empfing uns ein Mitarbeiter der DDR -Botschaft, chauffierte uns in einem schönen, stillen Auto seitenverkehrt in die Londoner Innenstadt, parkte in einer Straße unweit des Hyde Parks, führte uns in eine kleine Wohnung, gab uns die Schlüssel und verabschiedete sich.
    »Da wären wir also«, sagte mein Vater und klang dabei so erleichtert, als hätten wir eine Weltreise hinter uns gebracht. »Willst du dich ausruhen?« Ich wollte mich nicht ausruhen, ich wollte London sehen. Also gingen wir los, und mein Vater zeigte mir London – das große Bilderbuch-London mit Tower Bridge, Big Ben und Westminster – ein steifes, fremdes, kühles London, das ich zwar beeindruckend fand, das mich jedoch schon bald langweilte. Ich versuchte meine Enttäuschung zu verbergen, aber mein Vater spürte sie. »Es interessiert dich nicht, oder?«, sagte er traurig. »Du hast was anderes erwartet.« Ich schwieg. Ich wusste, wie viel es ihm bedeutete, mir diese Stadt zu zeigen, doch es war nicht mehr seine Stadt. Sein London hatte er vor fast vierzig Jahren verlassen. Und als könne er meine Gedanken lesen, sagte er plötzlich: »Komm, ich zeige dir etwas anderes.«
    Wir fuhren mit der U-Bahn nach Hampstead, er zeigte mir das Haus, in dem er mit den anderen deutschen Emigranten gewohnt und den Park, in dem er meine Mutter zum ersten Mal geküsst hatte. »Nein, sie mich«, sagte er mit seltsam verklärtem Blick. Er zeigte mir das Standesamt, wo sie geheiratet hatten, und ging mit mir auf den Highgate-Friedhof zum Grab von Karl Marx.
    »Hier habe ich das Tau gekappt.«
    »Welches Tau?«
    »Als wir hier ankamen, war ich doch Katholik«, sagte mein Vater. »Ich wollte Priester werden, weißt du noch?« Und ob ich das wusste.
    »Es hat lange gedauert, bis ich mich von meinem Gott verabschieden konnte. Ich habe ihn damals in so eine Art Beiboot gesetzt und noch eine ganze Weile hinter mir hergezogen, und hier habe ich es gekappt, das Tau«, sagte er leise. Wir standen eine Weile vor dem Marx-Grab und schwiegen.
    »Und was ist mit deinem Judentum, Papa?«, fragte ich ihn nach einer Weile. Sein Blick kehrte in die Gegenwart zurück. »Was soll damit sein?«, antwortete er gereizt. »Jude war ich nur nach den Rassengesetzen der Nazis, mehr nicht. Für mich hat das nie eine Rolle gespielt. Ich war Katholik, und jetzt bin ich Kommunist.«
    »Du musstest doch aber als Jude aus Deutschland weg. Und hättest du nicht weggemusst, hätte es das Beiboot nie gegeben, und du wärst nie Kommunist geworden, oder?«
    »Hätte, wäre, wenn«, sagte mein Vater kühl.

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