Ab jetzt ist Ruhe
einsam, was viel schlimmer war. Ich bemaß die Zeit nach der Dauer der Musikkassetten, die mir Katja mit ihrem Walkman schickte. Eine Seite, eine halbe Stunde. Pop, den sie bei irgendwelchen Radiohitparaden mitgeschnitten hatte. Phil Collins stotterte »Sussudio«, Katrina & The Waves gingen auf Sonnenschein spazieren, und Falco ließ sich von Amadeus rocken – alle hatten so erschütternd gute Laune, dass es mir nur noch schlechter ging.
Wenn Visite war, standen neben Stationsarzt und Schwestern ein paar Medizinstudenten um mein Bett. Sie durften meinen Bauch abtasten, studierten meine Krankenakte und nickten sich wissend zu. Sie waren in meinem Alter, manche sogar jünger. Sie waren gesund, sahen gut aus und konnten jederzeit gehen – ich hingegen war krank, sah schlimm aus und hatte das Gefühl, langsam zu verschwinden.
Ich lag auf der Station für hochinfektiöse Tropenkrankheiten, und die einzige Möglichkeit, mit Besuchern zu reden, war das Fenster nach draußen. Doch es war Winter und bitterkalt, keiner blieb lange vor dem Haus stehen.
Mein Vater sah entsetzt und hilflos aus, als er mich zum ersten Mal besuchte. »Was machst du nur für Sachen?«, rief er nach oben. Ich bat ihn, mir schwarzen Johannisbeersaft mitzubringen. Die Oberschwester schwor auf schwarzen Johannisbeersaft. »Spült den Gilb schön raus! Wird sie schon sehen, unsere Quitte«, hatte sie mal gesagt, bevor sie ein weiteres Mal meine Vene verfehlte.
Mein jüngster Bruder kam, brachte mir Bücher und erzählte versaute Witze vor dem Fenster. Die alte Frau hinter mir stöhnte. Meine Freunde kamen, berichteten in kurzen, frierenden Sätzen, was es Neues gab, und gingen wieder.
Ich führte akribisch Buch über mein Gewicht und meine Leberwerte und wartete auf den Tag und die Nachricht, dass ich »negativ« sei. Nach sechs Wochen war es so weit. Der Oberarzt kam und erklärte feierlich, dass das Virus nicht mehr nachzuweisen sei und ich nach zwei Wochen auf der Rekonvaleszenz-Station entlassen werden könne. Die Oberschwester nickte bestätigend, als sei es ihr Verdienst, dass ich wieder gesund wurde. »Da sind wir dem Tod aber noch mal von der Schippe gesprungen«, erklärte sie dramatisch, während sie nach mehreren Fehlversuchen ein letztes Mal die Nadel dahin bohrte, wo sie eine Vene vermutete.
Ich hatte in den Wochen, da ich hier war, viel Gewicht verloren und war noch schwach. Doch gleich am ersten Tag auf der offenen Station ging ich vors Krankenhaustor und rauchte eine Zigarette. Sie schmeckte nicht, und mir war schwindlig, doch das war mir egal. Ich war frei und fühlte mich leicht. Mein Körper war weniger geworden, weniger schwer, weniger anstrengend – ich mochte diesen Körper und diesen Zustand. Ich wollte, dass das so blieb.
In den letzten Wochen im Krankenhaus entwickelte ich eine panische Angst davor wieder zuzunehmen. Ich war fest davon überzeugt, dass mir das neue, ungewohnte und schöne Gefühl, meinen Körper zu mögen, sonst wieder abhanden käme. Also aß ich nur noch wenig, und als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kaufte ich mir als Erstes eine Waage. Mir war nicht bewusst, dass ich die eine Krankheit gegen eine andere getauscht hatte. Ich wunderte mich auch nicht darüber, dass ich statt zu hungern irgendwann Nudeln und Schokolade in mich hineinstopfte, um mich gleich darauf sehr routiniert und von meiner Umwelt unbemerkt wieder davon zu trennen. Ich fühlte mich nicht wohl mit meinem neuen Hobby, doch wenn ich aß, fühlte ich mich noch unwohler. Meine Brüder hatten ihre Süchte, und ich hatte plötzlich meine, nur wusste ich das nicht. Noch nicht. Ich hielt es für eine schlechte Angewohnheit, die kam und ging – je nachdem, wie zufrieden ich gerade mit meinem Leben war. War es öde und langweilig, besuchte sie mich. War es bunt und interessant, vergaß ich sie. Nach England kam sie nicht mit.
»Wenn du wieder gesund bist, besuchen wir vielleicht mal Willy in London«, hatte mein Vater gesagt, als ich noch im Krankenhaus lag. Er sagte es so beiläufig, dass ich nicht weiter darüber nachdachte. Ich hielt es für einen linkischen Versuch, mich aufzumuntern, und nahm es nicht ernst. Umso überraschter und glücklicher war ich, als er mir an meinem Geburtstag das Flugticket schenkte. »Ein paar Tage«, sagte er. »Wir beide.«
»Wie geht das, Papa?«
»Es ist Teil meiner Geschichte, ich habe dort gelebt. Also ist es auch Teil deiner Geschichte, und den darf ich dir zeigen.«
»Du
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