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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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»Wäre ich nicht Jude gewesen, wäre sowieso einiges anders gelaufen.«
    »Was meinst du damit?«
    Mein Vater holte tief Luft, als sammelte er Kraft für das, was er mir jetzt sagen würde. »Sie haben uns nicht gut behandelt, als wir aus England zurückkamen«, sagte er bitter. »Wir waren Westemigranten, das machte uns in ihren Augen suspekt. Wir hatten nicht im KZ gesessen, wir waren nur Verfolgte zweiter Klasse, also waren wir auch nur gut genug für die zweite Reihe.«
    »Welche zweite Reihe?«
    »Stellvertretender Kulturminister, Zweiter Sekretär, Vizepräsident … zweite Reihe eben. Das war kein Zufall, das hatte System. Sie haben uns in die Schranken gewiesen.«
    »Sie?«
    »Die Genossen. Die Partei.«
    Mein Vater starrte auf den Marx-Kopf und schwieg. Ich hatte ihn noch nie so reden hören. Er hatte immer Wir gesagt, wenn er von der Partei und seinen Genossen sprach. Jetzt stand er plötzlich abseits und klagte an. Das war neu.
    Ein Vogel lärmte im Baum, und als wollte er die erstaunlichen Worte meines Vaters bekräftigen, hielt er plötzlich inne und ließ einen beachtlichen weißen Klecks auf die schwere Bronzestirn des Denkers fallen. Dann schimpfte er weiter. »Lass uns gehen«, sagte mein Vater.
    Am Tag darauf stiegen wir in den Zug und fuhren an die englische Südküste nach Bournemouth. Dort führte mich mein Vater zu dem ehemaligen Kinderheim, in dessen schmalem Garten er heimlich seine erste Zigarette geraucht und versucht hatte, mit seinem immer wortkarger werdenden Gott zu reden. Nicht weit davon befand sich auch das Haus des irischen Jesuitenpaters, bei dem er für ein paar Schilling in der Woche als Messdiener gearbeitet hatte – ein freundliches, hellblau getünchtes Haus mit einer schönen, von Efeu umrankten Veranda. »Da habe ich manchmal mit Father Bernard gesessen und Tee getrunken«, sagte mein Vater, und seine Züge wurden plötzlich weich. »Er hat mir Bücher von Charles Dickens und Robert Louis Stevenson gegeben, damit ich besser Englisch lerne.« In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür, und es erschien eine junge Frau, die uns argwöhnisch ansah. Mein Vater entschuldigte sich und erklärte ihr, warum wir vor ihrem Haus standen. Er war charmant, und sein Englisch perlte. Das Gesicht der Frau entspannte sich, sie bedauerte, dass sie nichts über jenen Priester wisse, der hier gewohnt habe, und winkte uns zum Abschied lächelnd hinterher. Mein Vater lächelte auch. Er schien plötzlich wie ausgewechselt, so heiter und gelöst – ich konnte mich nicht erinnern, wann ich ihn zuletzt so erlebt hatte. Ich liebte es, ihn so zu sehen. Doch ich ahnte auch, dass ich ihn nicht mehr sehr lange so sehen würde.
    Am Abend fuhren wir zurück nach London, und am nächsten Tag besuchten wir Willy. Mein Großvater bewohnte seit dem Tod von Oma London allein das großzügige, viktorianische Haus im Londoner Nordwesten, und er strahlte, als er uns die Tür öffnete. Willy war inzwischen dreiundachtzig Jahre alt, doch abgesehen davon, dass er jetzt einen eleganten Stock mit sich führte, schien er kaum gealtert zu sein. Er trug noch immer sein sorgsam gestutztes Menjou-Bärtchen, und sein inzwischen weißes, gewelltes Haar war wie damals mustergültig nach hinten frisiert.
    »Servus, Sweetie«, rief er und öffnete seine Arme. »Wie erwachsen du geworden bist!« Er führte uns ins Wohnzimmer und bat uns, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Eine hübsche, junge Frau kam herein und nickte uns lächelnd zu. »Das ist Rose«, sagte Willy. »Sie ist eine meiner Studentinnen und kommt manchmal vorbei, um mir ein wenig zur Hand zu gehen.« Mein Vater schaute etwas irritiert, als Willy uns mit einem galanten Zwinkern zu verstehen gab, dass dieser Satz durchaus mehrdeutig gemeint war. Er bat die junge Frau, uns Tee und Gebäck zu bringen, und setzte sich zu uns. Wir plauderten uns heiter durch den Nachmittag, tranken Tee und aßen Kekse, und als es dämmerte, überredete Willy meinen Vater zu schottischem Whisky.
    Während sich die beiden Männer unterhielten, sah ich mich im Haus um. Es war bevölkert von den Tieren, die Willy gezeichnet, gemalt, geformt und in Bronze gegossen hatte – Leoparden, Tiger, Nashörner, Hunde, Affen in jeder Größe und aus den verschiedensten Materialien. An den Wänden hingen die Skizzen und Storyboards seiner Cartoons, und in den Regalen standen die Gipsformen der wenigen menschlichen Skulpturen, die er gemacht hatte. Ein skurriles Universum. Willys Universum.
    Als ich

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