Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
Vom Netzwerk:
mit meinem Großvater gegessen hätte.
    »Mein Großvater ist tot«, sagte Jimmy traurig. »Er war cool. Hat mir Motorradfahren beigebracht und so.« Er drehte eine Zigarette und reichte sie mir. Ich nahm sie, er drehte sich auch eine, und wir rauchten schweigend. »Jimmy!«, rief plötzlich der Typ mit der Gitarre und winkte. Jimmy drückte seine Zigarette aus. »Na dann, bis später«, sagte er und schlenderte mit seiner Bierflasche zur Bühne.
    Zehn Minuten später begann das Konzert. Die »Happy Sociopaths« spielten lauten, schnellen, grimmigen Hardcore, zu dem die wenigen Leute im Club sofort sprangen, schubsten und rempelten, als gäbe es kein Morgen. Ihr Pogo war wütend und brutal und endete erst, als auch die Band nach einer halben Stunde zu spielen aufhörte. Jimmy stellte seinen Bass weg, kam zu mir zurück und bestellte sich noch ein Bier.
    »Hat es dir gefallen?«
    »Naja, es ist nicht so ganz meine Musik«, sagte ich. »Aber es hat Spaß gemacht.«
    »Ja«, sagte Jimmy. »Meine Musik ist es eigentlich auch nicht, aber es macht Spaß.« Er war ein komischer Kauz, ich mochte ihn. Als ich mich später von ihm verabschiedete, tauschten wir unsere Adressen, und ich versprach, ihm eine Kassette von einer Punkband aus dem Osten zu schicken. »Feeling B ist ein guter Name«, sagte er anerkennend. Später schickte ich ihm die Kassette, doch sie kam wieder zurück: Empfänger unbekannt verzogen.
    Ich fuhr an diesem Abend müde und beseelt nach Hause. So hatte ich mir mein London vorgestellt. Es war spät, und das Haus war schon dunkel. Ich schlich mich in mein Zimmer, legte mich ins Bett und schlief sofort ein.
    Als ich am nächsten Morgen aufstand und ins Bad gehen wollte, öffnete sich die Zimmertür gegenüber, und die schöne Rose erschien. Sie trug ein zartes Nachthemd und kam aus dem Schlafzimmer von Willy. Mein Großvater. Dreiundachtzig. Nicht zu fassen. Als Rose mich sah, errötete sie und lächelte unsicher. Ich lächelte zurück, und sie verschwand wieder hinter der Tür.
    »Die interessantesten Geschichten findet man immer da, wo man sie nicht erwartet«, sagte Willy verschmitzt am Frühstückstisch und goss Tee in meine Tasse. »Ich hatte recht, nicht wahr?«
    »Ja«, grinste ich. »Hattest du.«
    »Erzähl mir von deinen Brüdern. Dein Vater ist nicht besonders gut auf sie zu sprechen, oder?«
    Ich erzählte ihm von meinem ältesten Bruder, der Shakespeare und Tschechow übersetzte, inzwischen mit einer schönen Schauspielerin aus der Schweiz zusammenlebte und gerade die Idee hatte, einen Film zu machen, in dem ein berühmter amerikanischer Schauspieler die Hauptrolle spielen sollte.
    »Das ist doch wunderbar«, sagte Willy. »Es geht ihm gut im Westen?«
    »Ich weiß nicht so genau«, sagte ich. »Manchmal ruft er nachts an und redet viel. Manchmal reden wir monatelang gar nicht.«
    »Er ist berühmt, nicht wahr?«
    »Ja. Aber er sagt, Ruhm wärmt nicht.«
    »Das stimmt.«
    Ich erzählte ihm von meinem jüngsten Bruder, der gerade eine Kindermärchenplatte veröffentlicht hatte. »Über eine Maus mit einem angebissenen Ohr und eine Ratte, die ein Menschenfreund werden will.«
    Tiere. Willy war begeistert. »Fragst du ihn, ob er mir das schickt?«
    »Mach ich.«
    »Ist er zufrieden?«
    »Ich weiß nicht so genau«, sagte ich. »Er hat zu wenig zu tun und trinkt zu viel. Er ist verletzt, glaube ich.«
    »Und du?«, fragte Willy schließlich. »Wie geht es dir?«
    »Mir geht’s gut. Ich weiß bloß immer noch nicht, was ich eigentlich will.«
    »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, sagte Willy und klopfte seine Hand warm auf meine. »Das kommt schon noch.«
     
    Nach dem Frühstück fuhr ich wieder in die Stadt. Diesmal ging ich geradewegs dorthin, wo das dekadente Herz des Kapitalismus schlug – in die Oxford Street. Wo, wenn nicht hier, sollte ich die letzten Pfund des Geldes, das ich von Oma London geerbt hatte, ausgeben? Doch das war leichter gesagt als getan. Als ich jenen legendären Plattenladen betrat, von dem ich schon so oft gehört und gelesen hatte, war ich überfordert. Bis jetzt hatten mir die verführerischen Auslagen der Geschäfte, die aus den Nähten platzenden Regale in den Supermärkten und die bunte Leuchtreklame nicht viel anhaben können, doch das hier war zu viel. Ich wusste nicht, wo auf diesen mit Schallplatten und Musikbüchern vollgestopften drei Etagen ich anfangen sollte. Ich irrte ein halbe Stunde durch das Geschäft und verließ es, ohne eine einzige Platte

Weitere Kostenlose Bücher