Ab jetzt ist Ruhe
dich.«
»Ich mach dir keinen Kummer, und du machst dir keine Sorgen, ok?«
»So machen wir das«, sagte mein Vater, und als gelte es, einen Vertrag zu besiegeln, drückte er kräftig meine Hand.
Ich atmete tief durch, als ich allein auf der Straße stand. Dann machte ich mich auf den Weg zu Willy, trank mit ihm Tee, trug meine Reisetasche ins Gästezimmer und fuhr mit der U-Bahn zurück in die Innenstadt. Willy hatte mir empfohlen, mich einfach treiben zu lassen. »Die interessantesten Geschichten findet man sowieso immer da, wo man sie nicht erwartet«, hatte er gesagt. »Das ist wie im Leben.«
Also ließ ich mich treiben. Ich hatte zwar einen Stadtplan, doch ich benutzte ihn nur, um nachzusehen, wo ich gerade war. Ich folgte Willys Rat und benutzte Nebenstraßen. Wenn ich auf eine Hauptstraße kam, bog ich schnell wieder in eine Seitenstraße ein, und stand ich auf einem größeren Platz, suchte ich den unauffälligsten Ausgang. Auf diese Weise war ich noch nie durch eine fremde Stadt gelaufen. Es machte Spaß. Es war ein Abenteuer. Es war wie ein Sog. Irgendwann fühlte ich mich nicht mehr als Tourist, sondern als habe mich die Stadt absorbiert.
Als es plötzlich zu regnen anfing, flüchtete ich in einen kleinen Laden im Souterrain eines alten Hauses. Das Licht war schummerig, und es roch nach Gras. In der Mitte des Raumes stand ein großer Regaltisch mit Schallplatten, an den Wänden hingen Plakate von Bands, deren Namen ich noch nie gehört hatte, und aus einer Box waberte ein diffuser Reggae-Bass. Hinter dem Verkaufstresen, der mit Konzertflyern beklebt war, saß ein Punk und strickte. Als ich hereinkam, schaute er von seiner Handarbeit auf und grinste. »Hi«, sagte er. »Wie geht’s?« Ich grinste zurück. »Gut.«
»Du bist nicht von hier, oder?«
»Nein. Aus Ostberlin.«
»Ostberlin?« Er legte seine Strickutensilien beiseite, stand auf und kam hinter dem Tresen vor, um mich näher in Augenschein zu nehmen. Er war etwas kleiner als ich, trug eine schwere, mit Ketten, Nieten und Buttons besetzte Lederjacke, und sein schwarzes Haar zielte sehr gekonnt in alle Richtungen. »Ich habe noch nie jemanden aus Ostberlin getroffen«, sagte er und betrachtete mich interessiert. »Wie bist du da rausgekommen?« Mit meinem schmalen englischen Vokabular erklärte ich ihm, wie und warum ich hier war und dass ich bei meinem Großvater wohne. »Cool«, sagte er und nickte anerkennend, als habe ich ihm gerade berichtet, ich sei unter Einsatz meines Lebens über die Grenze geflüchtet. »Und was hast du jetzt vor?« Ich war nicht sicher, ob sich diese Frage auf mein weiteres Leben oder diesen Nachmittag bezog, und hielt meine Antwort ebenso vage. »Ich weiß noch nicht genau«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. Der Punk ging hinter seinen Tresen, bückte sich, tauchte mit zwei Flaschen Bier wieder auf, öffnete sie mit seinem Feuerzeug, kam zu mir und gab mir eine Flasche. »Ich bin Jimmy«, sagte er und stieß seine Flasche an meine. »Cheers, Ostberlin!«
Wir tranken, er fragte mich über mein Leben aus und erzählte mir von seinem. Er stammte aus einem kleinen Kaff in der Nähe von Manchester, war erst vor kurzem nach London gekommen, teilte sich mit ein paar Freunden eine Wohnung um die Ecke und half manchmal hier im Laden aus. »Ich spiel in einer Band«, sagte er und drückte mir einen Flyer in die Hand. »Wenn du willst, komm doch heute Abend vorbei, da spielen wir.«
Der Club, in dem die »Happy Sociopaths« spielen sollten, lag im schmutzigen Hinterhof eines verlassenen Fabrikgebäudes. Als ich kam, klebten nur ein paar Gestalten in dunklen Ecken und tranken Bier. Auf der kleinen Bühne, die mit schwarzem Stoff abgehangen war, stöpselte gerade ein Typ seine Gitarre in den Verstärker und schlug ein paar Saiten an. Ich ging zum Tresen und kaufte mir eine Cola.
»Hi«, sagte eine Stimme hinter mir. Es war Jimmy. Sein Haar stachelte jetzt in Pink, seine Augen waren mit schwarzem Kajal umrahmt, die Fingernägel schwarz lackiert, und unter seiner schweren Lederjacke trug er ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Security System«. Er bestellte sich ein Bier.
»Hattest du noch einen schönen Nachmittag?«, fragte er. Ich hatte vorhin im Laden schon gestaunt, wie überaus höflich und zuvorkommend er war. Mit geschlossenen Augen hätte man ihn für einen guterzogenen Streber mit Seitenscheitel und Bügelfalte halten können. Ich erzählte ihm, dass ich noch ein bisschen durch die Gegend gelaufen sei und dann
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