Abaddons Tor: Roman (German Edition)
einem Raumanzug umherflog, setzte er auf die ohnehin schon lange Liste der Probleme, die er nicht lösen konnte.
»Die gute Nachricht ist, dass Monicas Team auf die Behemoth evakuiert wird.«
»Du konntest sie ja von Anfang an nicht leiden.«
»Nicht besonders, nein.«
»Warum nicht?«
»Es ist ihr Job, alte Dinge ans Licht zu bringen.« Der unbeschwerte Tonfall täuschte beinahe über ihre Ängste hinweg. »So was führt immer zu einem Chaos wie diesem hier.«
Als Holden neun gewesen war, hatten sie den Familienhund Rufus verloren. Der Labrador war schon bei Holdens Geburt erwachsen gewesen, deshalb hatte Holden ihn nur als liebevoll schlabberndes riesiges Vieh gekannt. Seine ersten Schritte hatte er mit einer pummeligen Faust im Fell des Hundes getan. Als Kleinkind war er auf der Farm in Montana umhergelaufen und hatte zeitweise nur Rufus als Babysitter gehabt. Holden hatte den Hund mit einer Intensität geliebt, die nur Kinder und Hunde aufbringen konnten.
Als er neun gewesen war, hatte Rufus fünfzehn Jahre gezählt und war für einen so großen Hund sehr alt gewesen. Das Tier wurde langsamer, rannte nicht mehr mit Holden mit, trabte mühsam, um ihn einzuholen, und konnte schließlich nur noch langsam laufen. Der Hund fraß nicht mehr, und eines Abends fiel er vor einem Heizungsgitter auf die Seite und begann zu keuchen. Mutter Elise hatte Holden erklärt, dass Rufus die Nacht vermutlich nicht überstehen würde, und selbst wenn, würden sie am nächsten Morgen den Tierarzt rufen. Holden hatte unter Tränen gelobt, bei dem Hund zu wachen. Die ersten zwei Stunden lang hatte er Rufus’ Kopf auf dem Schoß gehalten und geweint, während der Hund um Atem gerungen und gelegentlich halbherzig mit dem Schwanz gewedelt hatte.
Nach drei Stunden waren die Willenserklärung und alle guten Ansichten über ihn selbst vergessen gewesen, denn ihm war langweilig geworden.
Diese Lektion hatte er nie vergessen. Die emotionale Energie der Menschen war nicht unerschöpflich. Ganz egal, wie angespannt eine Situation auch war, wie stark die Gefühle auch sein mochten, es war unmöglich, ein intensives Empfinden ewig zu halten. Früher oder später wurde man müde und wollte nur noch, dass es vorbei war.
In den ersten Stunden seines Fluges zu der blau glühenden Station hatte Holden Ehrfurcht für den gewaltigen sternenlosen Raum empfunden, der ihn umgab. Er hatte sich vor dem gefürchtet, was das Protomolekül von ihm erwarten mochte, vor den Marinesoldaten, die ihn verfolgten, vor der Möglichkeit, die falsche Entscheidung getroffen zu haben, und dass er auf der Station ankommen und rein gar nichts entdecken würde. Vor allem hatte er Angst gehabt, Naomi und die Crew nie wiederzusehen.
Nachdem er stundenlang allein im Raumanzug getrieben war, ließ sogar die Angst nach. Er wollte es einfach nur noch hinter sich bringen.
In der unendlichen, einförmigen Schwärze, mit der blauen Kugel als einziger Lichtquelle direkt vor ihm, war es leicht, sich zu fühlen, als flöge er durch einen riesigen Tunnel und strebte langsam dem Ausgang entgegen. Das menschliche Bewusstsein kam nicht gut mit der Unendlichkeit zurecht. Es brauchte Wände, Horizonte, Grenzen. Wenn nötig, erschuf es sich diese eben selbst.
Sein Anzug erinnerte ihn piepsend daran, dass es Zeit war, den Sauerstoffvorrat aufzufüllen. Er zog eine Reserveflasche aus dem Netz, das er an die EVA-Ausrüstung gehakt hatte, und verband sie mit dem Stutzen des Anzugs. Das Messgerät im Helmdisplay stieg auf vier Stunden und blieb stehen. Wenn er das nächste Mal nachfüllen musste, war er auf der Station oder im Gewahrsam der Marinesoldaten.
Auf die eine oder andere Weise wäre er jedenfalls nicht mehr allein, und das war eine Erleichterung. Er fragte sich, was seine Mütter zu alledem gesagt hätten, ob sie seine Entscheidungen gebilligt hätten und wie er dafür sorgen konnte, dass ihre Kinder einen Hund bekamen, obwohl Naomi nicht in einer Schwerkraftsenke leben konnte. Seine Aufmerksamkeit und seine Gedanken schweiften ab.
Ein durchdringendes Summen riss ihn in die Gegenwart zurück. Unwillkürlich schlug er im leeren Raum um sich, um den Alarm abzuschalten. Als er endlich die vom Schlaf verklebten Augen öffnete, sah er, dass sein Helmdisplay ihm eine Annäherungswarnung eingespielt hatte. Irgendwie war er eingeschlafen, und jetzt war die Station nur noch ein paar Kilometer entfernt.
Aus der Nähe betrachtet, war sie eine sanft gekrümmte, metallisch blau
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