Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Bull. Hören Sie genau zu. Es ist wichtig.«
»Ich habe weder die Zeit noch die Geduld …«
»Bull!«, fauchte Sam. »Können Sie unterhalb der Brustwarzen irgendetwas spüren?«
Wieder erwachte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, und dieses Mal war es von einer tiefen, urtümlichen Angst begleitet. Ihm wurde übel, er schloss die Augen. Alles, was die Ärztin gesagt hatte – gequetschtes Rückenmark, diffuse Blutergüsse, Querschnittslähmung –, drang endlich zu ihm vor. Er schämte sich für die Tränen, die ihm aus den Augen quollen, bis er die Gesichter der Frauen nicht mehr richtig erkennen konnte.
»Wenn die Nervenfasern falsch zusammenwachsen«, sagte die Ärztin, »entsteht ein dauerhafter Schaden. Unsere Körper sind nicht dazu gemacht, bei null G zu heilen. Wir sind dazu konstruiert, die Dinge abfließen zu lassen. Ein Blutgerinnsel und die Rückenmarksflüssigkeit drücken auf Ihre Verletzung. Wir müssen absaugen und die Knochensplitter beseitigen. Wir könnten sofort das Nervenwachstum einleiten, aber es gibt ein Dutzend Leute, die unsere Nootropika benötigen, um einfach nur am Leben zu bleiben.«
»Verstehe.« Bull kämpfte gegen den Kloß im Hals an und hoffte, sie hörte bald zu reden auf, doch sie kam gerade erst in Fahrt.
»Wenn wir den Schaden begrenzen, den Druck abbauen und Sie unter mindestens ein Drittel G setzen, sind die Aussichten gut, dass Ihre Körperfunktionen wenigstens teilweise wiederhergestellt werden.«
»Also gut.« Die medizinischen Alarmsignale, die Stimmen und das Summen der Luftrecycler ersetzten ein echtes Schweigen. »Was empfehlen Sie mir?«
»Ein künstliches Koma«, erwiderte die Ärztin ohne zu zögern. »Wir können Ihr System herunterfahren und Sie stabilisieren, bis wir Sie vom Schiff evakuieren können.«
Bull schloss die Augen und zerdrückte die Tränen zwischen den Lidern. Er musste nur »Ja!« sagen, und schon wäre das alles das Problem eines anderen. Es würde alles verschwinden, und er würde unter Schub zu sich kommen und spüren, wie sein Körper langsam wieder zusammenwuchs. Oder er würde überhaupt nicht mehr aufwachen. Er zögerte es hinaus, erinnerte sich, wie er zwischen den stillgelegten Sonnenkollektoren gewandert war. Wie er hinaufgestiegen war. Wie er eine Verstrebung aus Keramik mit den Knien umklammert hatte, während die anderen Männer seines Teams sie zerschnitten hatten. Wie er gelaufen war. Er erinnerte sich an eine Frau auf der Tycho-Station und wie sich ihr Körper neben seinem angefühlt hatte. Das konnte er wieder bekommen. Oder wenigstens einen Teil davon. Es war nicht verloren.
»Danke für die Empfehlung«, sagte er. »Sam, geben Sie mir jetzt bitte den Schadensbericht.«
»Nein, Bull«, wandte Sam ein. »Wissen Sie, was passiert, wenn eins meiner Netzwerke falsch aufgebaut wird? Ich lösche es und beginne noch einmal von vorne. Bei Ihnen geht es um Biologie. Wir können nicht einfach Ihre Verdrahtung herausreißen und Sie neu starten. Und Sie können nicht den starken Mann spielen und sich durchkämpfen.«
»Mache ich das gerade?«, fragte Bull. Es klang beinahe schon wieder nach ihm selbst.
»Ich meine es ernst«, beharrte Sam. »Es ist mir egal, was Sie Fred Johnson versprochen haben oder für wie hart im Nehmen Sie sich selbst halten. Sie müssen jetzt ein großer Junge sein, Ihre bitteren Pillen schlucken und sich erholen. Haben Sie das verstanden?«
Sie war den Tränen nahe, ihr Gesicht färbte sich dunkel. Sicherlich waren einige aus ihrem Team gestorben. Menschen, die sie seit Jahren kannte, vielleicht sogar schon ihr ganzes Leben lang. Menschen, mit denen sie jeden Tag zusammengearbeitet hatte. Mit einer beinahe übersinnlichen Klarheit erkannte er die Tiefe ihres Kummers und spürte den Widerhall in sich selbst. An diesem Punkt war jetzt jeder. Alle Mitreisenden auf allen Schiffen hatten mit ansehen müssen, wie ihre Nächsten, die sie liebten, schwer verletzt oder getötet wurden. Und wenn die Menschen trauerten, dann taten sie Dinge, die sie vernünftigerweise nie getan hätten.
»Sehen Sie sich an, wo wir stehen, Sam«, antwortete Bull sanft. »Schauen Sie sich an, was wir hier tun. Manche Dinge werden nie wieder zum Normalzustand zurückkehren.« Sam wischte sich die Augen mit dem Ärmel aus. Bull wandte sich an die Ärztin. »Ich verstehe und respektiere Ihren ärztlichen Rat, kann ihn aber im Moment nicht befolgen. Sobald das Schiff und die Crew außer Gefahr sind, können wir noch einmal darüber
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