Abaddons Tor: Roman (German Edition)
irgendetwas passiert. Was auch immer die Station betreibt, es reagiert im Handumdrehen und macht die Sache für uns immer schwieriger. Ich kenne nicht die Mechanismen, die sie dabei benutzt, aber die Logik liegt auf der Hand. Sie gibt uns so viel Freiheit, wie sie kann, aber je mehr Mist wir bauen, desto enger zieht sich die Schlinge zu.«
»Na schön.« Pa strich sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. Sie war müde. »Das kann ich erkennen. Solange sie sich nicht bedroht fühlt, wird es vielleicht nicht noch schlimmer.«
»Aber wenn jemand sauer wird«, fuhr Bull fort, »dann weiß ich nicht, was passieren könnte. Wenn ein marsianischer pendejo alle seine Freunde verloren hat oder so und auf die Idee kommt, eine Nuklearwaffe scharf zu machen, zur Station zu fliegen und sie zu zünden, wird es vielleicht noch erheblich ungemütlicher.«
»Verstanden.«
»Wir müssen dafür sorgen, dass alle zusammenarbeiten«, erklärte Bull. »Erde, Mars, wir, alle. Denn wenn ich an deren Stelle wäre, dann würde ich von einer Festnahme über Handschellen bis zum Schusswaffengebrauch eskalieren. Wir wollen nicht, dass dieses Ding den gleichen …«
»Ich habe Ihnen zugestimmt, Mister Baca!«, rief Pa. »Das heißt, ich habe Ihr Argument verstanden, und Sie müssen es nicht noch einmal wiederholen. Was ich jetzt überhaupt nicht brauchen kann, ist ein selbstgerechter Kerl, der mir sagt, wie groß das Risiko ist und dass ich besser keinen Mist bauen sollte. Ich hab’s kapiert. Danke schön.«
Bull blinzelte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Auf seinem Bildschirm kniff Pa sich in den Nasenrücken. In ihrer Frustration ähnelte sie Ashford.
»Entschuldigung, XO«, sagte er. »Sie haben recht, das war übertrieben.«
»Keine Sorge, Mister Baca.« Sie betonte jede Silbe. »Wenn Sie konkrete, spezifische Vorschläge haben, steht Ihnen meine Tür jederzeit offen.«
»Das weiß ich zu schätzen«, antwortete Bull. »Demnach ist der Kapitän …«
»Kapitän Ashford bemüht sich, das Schiff heil und reaktionsfähig zu halten. Er glaubt, es verbessert die Moral, wenn ihn die Crew dabei sieht.«
Bull fragte nicht, wie erfolgreich der Versuch verlief. Es war auch nicht nötig. Pa bemerkte, dass er sich zurückhielt.
»Ob Sie es glauben oder nicht, wir spielen alle in demselben Team«, erklärte sie.
»Das werde ich mir merken.«
Ihre Miene wurde noch ernster. Sie beugte sich zum Bildschirm vor. Diese intime Geste war über eine Videoverbindung in einer schwerelosen Welt völlig überflüssig, künstlich und doch unvermeidlich.
»Ich habe von Ihrem Zustand gehört. Es tut mir leid.«
»Schon gut«, antwortete er.
»Und wenn ich Ihnen jetzt den Befehl gäbe, das künstliche Koma zu akzeptieren?«
Er lachte. Auch das fühlte sich falsch an. Aufgesetzt.
»Ich gehe erst, wenn ich fertig bin«, sagte er. Erst danach fiel ihm ein, dass diese Bemerkung auch ganz anders gedeutet werden konnte. »Sobald wir aus dem Gröbsten raus sind, können mich die Ärzte haben.«
»Alles klar.« Ihr Terminal zirpte. Sie fluchte leise. »Ich muss los. Ich melde mich wieder bei Ihnen.«
»Bis dann.« Bull trennte die Verbindung.
Das Klügste wäre es gewesen, zu schlafen. Seit vierzehn Stunden war er wach und beriet sich mit den Wachleuten, die überlebt hatten, setzte einen neuen Dienstplan auf und tat alles, was er aus der Krankenstation tun konnte, damit das Schiff wieder funktionierte. Vierzehn Stunden waren mitten in einer Krise keine sehr lange Schicht, es sei denn, man war verkrüppelt.
Verkrüppelt.
Mit einem üblen Gefühl fuhr er mit den Fingerspitzen über die Kehle und die Brust bis zu der unsichtbaren Linie, wo die Haut sich nicht mehr nach seiner eigenen anfühlte, sondern nach etwas anderem. Fleisch. Er schreckte vor dem Gedanken zurück. Er hatte schon früher Verletzungen erlitten und sich erholt, viermal oder fünfmal wäre er sogar beinahe gestorben. Irgendwie war immer etwas passiert, das ihn wieder auf die Beine gebracht hatte. So würde es auch dieses Mal laufen. Irgendwie, irgendwie würde er sich wieder erholen. Dann hätte er eine neue Geschichte zu erzählen, aber niemanden mehr, dem er sie erzählen konnte.
Dabei wusste er, dass er sich etwas vormachte, aber was konnte er schon tun? Abgesehen davon, sich zu verdrücken. Vielleicht sollte er sich tatsächlich dafür entscheiden. Sollte Pa sich um alles kümmern, sollte Ashford die Verantwortung allein tragen. Niemand würde ihm Vorwürfe machen, wenn er
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