Abaddons Tor: Roman (German Edition)
sich ins künstliche Koma versetzen ließ. Nicht einmal Fred. Teufel, Fred würde ihm vermutlich raten, es zu tun. Es ihm befehlen.
Bull schloss die Augen. Er würde schlafen, oder vielleicht auch nicht. Oder er sank in einen halb bewussten Dämmerzustand, der weder das eine noch das andere war. Im Korridor weinte eine Ärztin. Es war ein leises, unwillkürliches Geräusch, das eher nach einer Krankheit als nach dem Ausdruck von Kummer klang. Irgendjemand hustete gurgelnd. Jetzt waren Lungenentzündungen die größte Gefahr. Die Sensoren, die regelmäßig den Hustenreflex auslösen sollten, um die Lungen zu säubern, spielten in der Schwerelosigkeit verrückt, bis es zu spät war. Danach gerann das Blut, das in der Schwerkraft abgeflossen wäre, und löste Schlaganfälle und Embolien aus. Auf den anderen Schiffen sah es nicht besser aus. Verletzungen, die man überleben konnte, wurden tödlich, wenn man schwebte. Wenn sie doch nur etwas Schub geben konnten, ein wenig künstliche Schwerkraft erzeugen …
Wir spielen alle in demselben Team, sagte Pa in seinem Dämmerschlaf. Auf einmal war Bull hellwach. Er nahm das Handterminal, doch Ashford und Pa akzeptierten die Verbindungen nicht. Er spielte mit dem Gedanken, einen Notruf abzusetzen, der Vorrang hatte, verzichtete aber darauf. Noch nicht. Zuerst versuchte er es bei Sam.
»Bull?« Ihre Haut war grau, um die Mundwinkel hatte sie Falten, die vorher nicht da gewesen waren. Ihr blutunterlaufenes Auge starrte ihn an wie ein böses Omen.
»Hallo, Sam. Hören Sie zu, wir müssen alle anderen Crews von allen anderen Schiffen auf die Behemoth bringen. Wir sammeln alle ein, damit niemand Dummheiten macht.«
»Wollen Sie auch ein Pony haben?«
»Und ob«, erwiderte Bull. »Wir müssen ihnen natürlich einen Grund geben, hierherzukommen. Etwas, das sie brauchen, aber an keinem anderen Ort bekommen.«
»Klingt wunderbar.« Sam schüttelte den Kopf. »Vielleicht bin ich heute nicht besonders helle, mein Süßer, aber wollen Sie was von mir?«
»Überall gibt es Verletzte, überall brauchen sie Schwerkraft. Ich frage mich, wie lange es dauern würde, die große Walze in Betrieb zu nehmen.«
27 Melba
Die Dunkelheit war schön und surreal. Die Schiffe der Flottille wurden durch die unheimliche Kraft der Station zusammengezogen und näherten sich weiter an, als sie es unter menschlicher Kontrolle je getan hätten. Das einzige Licht kam von Wartungsgerüsten, die zufällig in Betrieb gewesen waren, und der gespenstisch glühenden Station. Es war, als liefe man im Mondlicht über einen Friedhof. Vor und hinter ihr war ein glitzernder Abschnitt des Kreises aus Schiffen und Trümmern zu erkennen. Egal, in welche Richtung sie sich wandte, es würde subjektiv gesehen aufwärts gehen.
Der Antrieb des Raumanzugs hatte eine begrenzte Reichweite, und für den Rückweg wollte sie Energie sparen. Deshalb stapfte sie mit Magnetstiefeln über die Außenhülle der Thomas Prince , bis sie den äußersten Rand erreichte und sich in den Abgrund zwischen den Schiffen werfen konnte. Sie zielte auf ein marsianisches Versorgungsschiff. Die zusammengefaltete mechanische Notluke, die sie auf dem Rücken trug, hatte eine Masse von fast fünfzig Kilo, doch da die Flugbahnen identisch waren, war das Ding so schwerelos wie sie. Sie wusste, dass es eine Illusion war, doch in der zeitlosen Leere zwischen der Thomas Prince und der verhassten Rosinante waren alle ihre Lasten leicht.
Das schlichte Helmdisplay des EVA-Anzugs hob die Rosinante mit einer dünnen grünen Linie hervor. Sie war nicht das nächste Schiff, der Flug dort hinüber würde Stunden dauern. Das machte ihr nichts aus. Die Rosinante war ebenso gefangen wie alle anderen und konnte nicht entkommen.
Leise summend stellte sie sich ihre Ankunft vor: Jim Holden war von der Station zurückgekehrt und tobte, weil sie sein Schiff zerstörte. Sie malte sich aus, wie er schluchzte und sie um Verzeihung bat, und dann die Verzweiflung in seinem Blick, wenn sie sich weigerte. Es waren schöne Träume, und solange sie sich ihnen hingab, konnte sie das Blut und den Schrecken hinter sich vergessen. Nicht nur die Katastrophe auf der Prince, sondern alles – Ren, ihren Vater, Julie, einfach alles. Das schwache blaue Licht des Objekts, das kein Mond war, erinnerte sie an die Heimat, und die drohende Gewalt war ein Versprechen, das sie zu halten gedachte.
Falls es einen anderen Teil in ihr gab, einen Funken von Clarissa, der noch nicht erloschen
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