Abaddons Tor: Roman (German Edition)
war und anders empfand, so war er geringfügig genug, um ignoriert zu werden.
Natürlich war es mindestens genauso wahrscheinlich, dass die Besatzung der Rosinante tot war. Die Katastrophe hatte sie ebenso hart getroffen wie die Thomas Prince oder irgendein anderes Schiff. Holdens Crew war möglicherweise bereits nichts weiter als abkühlendes totes Fleisch, das nur darauf wartete, dass sie den Scheiterhaufen entfachte. Auch darin, dachte sie, lag eine gewisse Schönheit. Sie lief über die Außenhüllen und sprang von einem Schiff zum nächsten wie ein Nervenimpuls, der eine Synapse durchquerte. Wie der schlechte Gedanke eines riesigen, vom Mond erhellten Gehirns.
Die Luft im Anzug roch nach altem Plastik und ihrem eigenen Schweiß. Jeder Schritt, bei dem sich die Magnetstiefel auf einer Metallhülle verankerten und wieder losließen, lief durch ihre Beine – ein Zug und das Lösen, Zug und Lösen. Vor ihr, so langsam wie der Stundenzeiger einer analogen Uhr, wuchs die gespenstisch grüne Rosinante heran.
Die Daten des Schiffs kannte sie auswendig, denn sie hatte die Dokumente wochenlang studiert. Eine marsianische Korvette, ursprünglich der zerstörten Donnager zugeteilt. Zugangspunkte waren die Mannschaftsschleuse unter der Operationszentrale, die rückwärtige Frachtluke und ein Wartungsschacht, der unter dem Reaktor entlanglief. Solange der Reaktor aktiv war, blieb die Wartungsluke gesperrt. Die Zugangscodes für die vordere Luftschleuse hatte Holden sicherlich sofort geändert, nachdem ihm das Schiff in die Hände gefallen war. Nur ein Narr hätte sie unverändert gelassen, und Melba glaubte nicht, dass ein Dummkopf ihren Vater zur Strecke bringen konnte. Die Wartungsblätter, die sie sich verschafft hatte, belegten, dass die Frachtluke schon einmal aufgebrochen worden war. Reparierte Teile waren immer schwächer als die Originale. Deshalb fiel ihr die Wahl leicht.
Aufgrund der Lage des Schiffs befand sich die Frachtluke auf der anderen Seite, und der Rumpf der Rosinante schirmte die fehlerhafte Stelle gegen das Licht ab. Melba drang in den Schatten ein und schauderte, als sei es im Dunkeln tatsächlich kälter. Sie heftete den Mech an die Außenhülle des Schiffs und baute ihn im Licht der Arbeitslampen ihres EVA-Anzugs zusammen. Der Mech war gelb wie frische Zitronen oder das Absperrband der Polizei. Die in drei Alphabeten aufgedruckten Warnungen erinnerten an kleine Rosettasteine. Sie empfand eine unerklärliche Zuneigung zu der Maschine, als sie sich das Ding auf den Rücken setzte und die Hände in die Greifarme schob. Der Mech war nicht für Gewaltakte erschaffen worden, aber dennoch gut dazu geeignet. Darin waren sie und er einander ähnlich.
Sie zündete den Schweißbrenner, worauf das Visier des EVA-Anzugs das Licht abblendete. Melba klammerte sich an das Schiff und begann mit der langsamen Invasion. Funken und winzige Asteroiden aus geschmolzenem Stahl flogen in die Finsternis. Die Reparaturarbeiten, wo die Frachtluke nach außen gebogen und neu eingepasst worden war, konnte man kaum erkennen. Hätte sie nicht gewusst, wo sie nachsehen musste, dann hätte sie die Schwachstellen nicht entdeckt. Sie fragte sich, ob jemand wusste, dass sie kam, und stellte sich vor, wie die Crew vor den Überwachungsdisplays hockte und mit ängstlich aufgerissenen Augen die Besucherin beobachtete, die sich durch die Hülle der Rosinante fraß. Bei der Arbeit sang sie leise einige Strophen aus populären Songs und alten Liedern, wie sie ihr gerade in den Sinn kamen. Die Verse und Melodien passten sich dem Summen und Vibrieren des Schweißbrenners an.
Sie brach ins Innere durch, der glühende Stahl war kaum dicker als ein ausgestreckter Finger. Durch den Spalt entwich keine Luft ins Vakuum. Also stand die Frachthalle nicht unter Druck. Das bedeutete, dass der Luftdruck im Schiff nicht abfiel und kein Alarm anschlug. Dieses Problem hatte demnach sogar ohne ihr Zutun eine Lösung gefunden. Es war ein Wink des Schicksals. Sie schaltete den Schweißbrenner ab, entfaltete die Notluftschleuse und montierte sie. Dann öffnete sie den äußeren Verschluss, zog ihn zu, öffnete den inneren Verschluss und betrat den geschützten kleinen Raum, den sie geschaffen hatte. Sie wusste nicht, wie viel Schaden sie im Schiff anrichten musste, um in die inneren Bereiche vorzudringen. Jedenfalls wollte sie sich nicht durch einen versehentlichen Atmosphärenverlust um ihre Rache bringen. Holden sollte erfahren, wer ihm dies antat, und
Weitere Kostenlose Bücher