Abaddons Tor: Roman (German Edition)
hatte vor allem die Ermahnung des Propheten, keine minderwertigen Opfer darzubringen, und den Bezug dieser Forderung zur modernen Frömmigkeit behandelt. Es war eine detailreiche Arbeit gewesen, unterfüttert mit allen Beweisen und Argumenten, die Anna dank ihres Fleißes und der siebenjährigen Ausbildung nur hatte finden können. Anna war sicher, dass kein einziges Gemeindemitglied die Predigt wach und aufmerksam überstanden hatte.
Daraus hatte sie eine wichtige Lektion gelernt. Es gab einen Raum für detailversessene Bibelstudien. Sogar vor der Gemeinde gab es Raum dafür. Doch nicht deshalb kamen die Menschen in die Kirche. Sie wollten etwas über Gott hören, um sich ihm näher und stärker verbunden zu fühlen, und nur auf diese Nähe kam es an. Inzwischen bestanden Annas Predigten aus ein oder zwei Seiten knapper Notizen, und der größte Teil der Worte kam direkt aus ihrem Herzen. Ihre Botschaft über die »gemischten« Andachten und was Gott darüber denken mochte hatte sie verkündet, ohne auch nur einmal in die Notizen zu blicken, und es war anscheinend sehr gut angekommen. Sie schloss mit einem kurzen Gebet und spendete das Sakrament. Gürtler, Marsianer und Erder standen friedlich und freundlich in einer Reihe. Ein paar Leute schüttelten einander die Hände oder klopften sich auf den Rücken. Anna hatte das Gefühl, die wichtigste Botschaft ihres ganzen Lebens verkündet zu haben.
»Das war gar nicht so übel«, erklärte Tilly, sobald die Andacht vorbei war. Sie war nervös wie immer, wenn sie eine Zigarette brauchte, doch Anna hatte sie gebeten, im Versammlungszelt nicht zu rauchen, und Tilly hatte eingewilligt. »Allerdings muss ich zugeben, dass sich meine Begeisterung für ein liebevolles Zusammensein in Grenzen hält.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, flüsterte Anna. Dann hielt sie inne und schüttelte einer Gürtlerin die Hand, die sich unter Tränen für den Gottesdienst bedankte. Tilly bedachte die Frau mit einem höchst unaufrichtigen Lächeln, schaffte es aber immerhin, nicht die Augen zu verdrehen.
»Ich brauche einen Drink«, verkündete Tilly, sobald die Frau gegangen war. »Kommen Sie mit, ich gebe Ihnen eine Limonade aus.«
»Die Bar ist wegen der Rationierungen geschlossen.«
Tilly lachte. »Ich habe einen Lieferanten. Der Kerl, der die Rationierung überwacht, hat mir eine Flasche vom besten Ganymed-Fusel für den Vorzugspreis von eintausend Dollar überlassen. Die Limonade hat er umsonst draufgelegt.«
»Eintausend …«
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten.« Tilly zückte eine Zigarette und schob sie sich zwischen die Lippen, zündete sie aber nicht an. »Entweder wir kommen hier raus und kehren ins Sonnensystem zurück, wo ich reich bin und wo tausend Dollar keine Rolle spielen, oder wir kommen nicht heraus, und dann ist sowieso alles egal.«
Anna nickte, weil ihr sonst keine Antwort einfiel. So sehr sie inzwischen auch Tillys Freundschaft genoss und als gegeben hinnahm, manchmal wurde ihr bewusst, wie stark sich ihre Welten voneinander unterschieden. Wenn sie und Nono tausend UN-Dollar übrig gehabt hätten, dann wäre das Geld sofort auf das Konto für Namis Collegegebühren gegangen. Tilly hatte noch nie im Leben auf irgendeinen Luxus verzichten müssen, um etwas Notwendiges kaufen zu können. Die Gemeinde war ein Sammelsurium verschiedenster Menschen, und an dieser Stelle sah man es besonders deutlich. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Gürtlern und den Vertretern der Raummarine von den inneren Planeten war die Tatsache, dass keiner von ihnen an diesem Abend Alkohol für tausend Dollar trinken würde. Tilly würde es tun.
Gott mochte sich nicht um die finanzielle Ausstattung der Menschen kümmern, aber er war in dieser Hinsicht wohl der Einzige.
»Ich muss zugeben, dass die Limonade sehr verlockend ist.« Anna fächelte sich mit dem Handterminal frische Luft ins Gesicht. Die große Walze der Behemoth war eigentlich dazu konstruiert, erheblich mehr Menschen aufzunehmen, als jetzt dort lebten, doch bei der Umrüstung zum Kriegsschiff hatte man viele Umweltsysteme ausgebaut. Anscheinend waren die Grenzen dessen erreicht, was die noch vorhandenen Luftaufbereitungssysteme verarbeiten konnten. Vielleicht lag es auch an der Klimaanlage. Es war jetzt durchweg heißer, als es einem Mädchen zusagte, das in Russland geboren war und bis vor Kurzem auf einem Eismond Jupiters gelebt hatte.
Nach einem abschließenden Rundgang durch das Zelt, um sich von den letzten
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