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Abaddons Tor: Roman (German Edition)

Abaddons Tor: Roman (German Edition)

Titel: Abaddons Tor: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James S. A. Corey
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tausend Leute sehen, ohne sie wahrzunehmen. Die schützende Decke der Anonymität, die Drogendealer, Zuhälter und Mädchenhändler mit harter Hand über dieses Viertel gelegt hatten, tarnte auch sie.
    Sie würde zurechtkommen, sie hatte es geschafft. Das letzte noch fehlende Hilfsmittel war da, nun musste sie nur noch ins Hotel zurückkehren, etwas trinken, um den Elektrolythaushalt in Ordnung zu bringen, und ein wenig schlafen. Und dann, in ein paar Tagen, würde sie sich auf der Cerisier zum Dienst melden und die lange Reise zum Rand des Sonnensystems antreten. Aufrecht lief sie die Straße hinunter, wich den Blicken der Menschen aus. Ein Dutzend Häuserblocks noch, der Rückweg kam ihr weiter vor als der Hinweg. Aber sie würde es schaffen. Sie würde tun, was getan werden musste.
    Sie war Clarissa Melpomene Mao gewesen. Ihre Familie hatte das Schicksal von Städten, Kolonien und Planeten geformt. Nun saß Vater in einem unbekannten Gefängnis, durfte mit niemandem reden außer mit seinem Anwalt und musste den Rest seines Lebens als gedemütigter Mann verbringen. Ihre Mutter lebte in einer privaten Einrichtung auf Luna und brachte sich nach und nach mit ihren Medikamenten um. Die Geschwister – diejenigen, die noch nicht tot waren – hatten sich in die Schutzzonen zurückgezogen, die sie vor dem Hass zweier Welten abzuschirmen vermochten. Früher hatte man den Namen ihrer Familie mit Sternenlicht und Blut geschrieben, jetzt hielt man sie für Schurken. Die Familie war zerstört.
    Aber sie konnte das ins Reine bringen. Leicht war es nicht gewesen, und auch die nächsten Schritte würden kein Spaziergang werden. In manchen Nächten hatte sie die Opfer als viel zu qualvoll empfunden, aber sie würde es schaffen. Sie würde allen vor Augen führen, welches Unrecht James Holden ihrer Familie angetan hatte. Sie würde ihn bloßstellen. Ihn demütigen.
    Und dann würde sie ihn vernichten.

4    Anna
    Annushka Volovodov, von ihrer Gemeinde auf Europa kurz Anna genannt, oder auch Hochwürden Dr. Volovodov für Leute, die sie nicht mochte, saß in ihrem Büro auf dem Ledersessel mit der hohen Lehne und knöpfte sich den Mann vor, der seine Frau geschlagen hatte.
    »Nicholas«, begann sie und versuchte, so viel Wärme aufzubieten, wie es ihr nur möglich war. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
    »Nick«, sagte er und ließ sich vor dem Schreibtisch auf einem Metallstuhl nieder. Die Sitzgelegenheiten für Besucher waren niedriger als ihr eigener Platz, was den Raum ein wenig wie einen Gerichtssaal wirken ließ, in dem sie den Vorsitz innehatte. Deshalb saß sie nie am Schreibtisch, wenn sie mit einem Gemeindemitglied sprach. Dafür gab es ein gemütliches Sofa in der Ecke, das für persönliche Gespräche viel besser geeignet war. Hin und wieder aber war die Autorität, die ihr der große Sessel und der schwere Schreibtisch verliehen, recht nützlich.
    Wie zum Beispiel in diesem Augenblick.
    »Nick«, sagte sie, legte die Fingerspitzen aneinander und stützte das Kinn darauf. »Sophia hat mich heute Morgen aufgesucht.«
    Nick zuckte mit den Achseln und wich ihrem Blick aus wie ein Schuljunge, der bei einer Prüfung gemogelt hatte. Er war ein großer Mann und hatte den schmalen, grobknochigen Körperbau eines Bewohners der äußeren Planeten, der von harter körperlicher Arbeit lebte. Anna wusste, dass er an der Oberfläche beim Bau beschäftigt war. Hier auf Europa bedeutete dies, dass er lange Schichten in einem schweren Vakuumanzug ableisten musste. Die Menschen, die solche Arbeiten verrichteten, waren hart wie Raumschiffhüllen. Nick zeigte die Haltung eines Mannes, der genau wusste, wie er auf andere wirkte, und benutzte seine körperliche Erscheinung, um die Leute einzuschüchtern.
    Anna lächelte ihn an. Bei mir klappt das nicht.
    »Zuerst wollte sie mir nicht verraten, was geschehen war«, fuhr sie fort. »Es dauerte eine Weile, bis sie bereit war, den Rocksaum anzuheben. Ich musste die blauen Flecken gar nicht mehr sehen, ich wusste schon vorher, dass sie da waren. Aber ich brauchte die Bilder.«
    Beim letzten Wort beugte er sich vor, kniff die Augen zusammen und rutschte hin und her. Wahrscheinlich dachte er, damit sähe er hart und bedrohlich aus. In Wahrheit wirkte er eher wie ein nervöses Nagetier.
    »Sie ist gestürzt …«, setzte er an.
    »In der Küche«, beendete Anna den Satz. »Ich weiß, das hat sie mir auch erzählt. Dann hat sie sehr lange geweint, und dann hat sie mir berichtet,

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