Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Anna. Hören Sie mir bitte zu. Bald wird die Polizei bei Ihnen auftauchen und nach Nick fragen. Sie müssen den Polizisten die blauen Flecken zeigen und ihnen alles berichten, was geschehen ist. Nick wird dann schon im Gefängnis sitzen, und Sie sind in Sicherheit. Als ich Nick wegen der Ereignisse zur Rede stellen wollte, hat er mich angegriffen, und wenn Sie wollen, dass wir beide sicher sind, müssen Sie die Wahrheit sagen.«
Nach ein paar Minuten Überredungskunst willigte Sophia schließlich ein, sich der Polizei zu offenbaren. Nick bewegte langsam wieder die Arme und Beine.
»Rühren Sie sich nicht vom Fleck«, warnte Anna ihn. »Wir sind hier fast fertig.«
Anschließend rief sie die Polizeiwache von New Dolinsk an. Die irdische Firma, die früher den Kontrakt innegehabt hatte, war schon lange fort, aber in den Tunneln gab es immer noch Polizisten, demnach war also irgendjemand eingesprungen. Vielleicht eine Gürtler-Firma oder sogar die AAP. Es spielte keine Rolle.
»Hallo, hier ist Hochwürden Dr. Annushka Volovodov. Ich bin Pastorin in der St. John’s United und möchte einen tätlichen Angriff auf mich anzeigen. Ein Mann namens Nicholas Trubachev hat mich attackiert, als ich ihn zur Rede stellte, weil er seine Ehefrau geschlagen hatte. Nein, er hat mich nicht verletzt, nur einige Prellungen am Handgelenk. Ich hatte einen Taser im Schreibtisch, den ich einsetzte, ehe er mir etwas Schlimmes antun konnte. Ja, ich mache gern eine Aussage, wenn Sie kommen. Vielen Dank.«
»Miststück«, fauchte Nick und wollte mit wackligen Beinen aufstehen.
Anna drückte noch einmal ab.
»Hattest du einen schweren Tag?«, fragte Nono, als Anna endlich nach Hause kam. Nono schaukelte ihre Tochter auf dem Schoß, und die kleine Nami quietschte und streckte die Arme zu Anna aus, sobald diese die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Wie geht es meinem kleinen Mädchen?« Anna ließ sich mit einem gedehnten Seufzen neben den beiden auf das Sofa fallen. Nono überließ ihr das Baby, worauf Nami sofort begann, Annas Haarknoten zu lösen und sie an den Haaren zu ziehen. Anna drückte ihre Tochter und roch ausgiebig an deren Haaren. Der feine, aber kräftige Geruch, den Nami verströmt hatte, als sie ihr Kind zum ersten Mal mit nach Hause genommen hatten, war inzwischen fast verflogen, nur ein leichter Hauch war noch da. Die Wissenschaftler mochten behaupten, dass den Menschen die Fähigkeit fehlte, auf der Ebene von Pheromonen zu interagieren, doch Anna wusste, dass dies Unfug war. Welche Chemikalien Nami auch als Neugeborenes ausgesandt hatte, es war die stärkste Droge, die Anna je gekostet hatte. Sie wünschte sich sogar ein weiteres Kind, nur um diesen Duft wieder riechen zu können.
»Namono, nicht an den Haaren zerren«, mahnte Nono und versuchte, dem Baby Annas lange rote Haarsträhne aus der Faust zu ziehen. »Willst du nicht darüber reden?«, fragte sie Anna.
Nonos voller Name lautete ebenfalls Namono, doch sie wurde Nono gerufen, seit ihre ältere Schwester sprechen gelernt hatte. Nachdem Anna und Nono ihrer Tochter diesen Namen gegeben hatten, hatte er sich irgendwie in »Nami« verwandelt. Die meisten Menschen hatten vermutlich keine Ahnung, dass das Baby nach einer der Mütter benannt war.
»Später schon, aber jetzt brauche ich erst etwas Zeit mit meinem Baby«, antwortete Anna.
Sie küsste Nami auf die Stupsnase. Es war die gleiche breite und flache Nase, die Nono hatte, und sie saß direkt unter Annas grünen Augen. Das Kind hatte Nonos kaffeebraune Haut, aber Annas spitzes Kinn. Anna konnte stundenlang dasitzen, Nami anschauen und die erstaunliche Kombination ihrer selbst und der Frau, die sie liebte, betrachten. Das Erlebnis war so übermächtig, dass es ihr fast wie etwas Heiliges vorkam. Nami steckte sich eine von Annas Locken in den Mund, worauf Anna sie sanft herauszog und einen Schmollmund machte. »Keine Haare essen!«, sagte sie. Nami lachte, als sei es ungeheuer komisch.
Nono nahm Annas Hand und drückte sie fest. Lange Zeit saßen sie beisammen und bewegten sich nicht.
Nono kochte Pilze mit Reis. Sie hatte ein paar aufbereitete Zwiebeln dazugetan, und der kräftige Duft erfüllte nun die Küche. Anna schnitt Äpfel am Tisch, um einen Salat zuzubereiten. Die Äpfel waren klein und nicht sehr frisch. Nicht gut zum Knabbern geeignet, aber in einem Waldorfsalat mit genügend anderen Aromen und Zutaten gingen die Unvollkommenheiten unter. Sie konnten von Glück reden, überhaupt so viel zu haben.
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