Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Die Früchte gehörten zu der ersten Ernte, die nach den Unruhen von Ganymed hereingekommen war. Anna mochte sich nicht vorstellen, wie hungrig die Menschen wären, wenn sich die Landwirtschaft auf dem Mond nicht bemerkenswert erholt hätte.
»Nami schläft noch mindestens eine Stunde«, sagte Nono. »Willst du jetzt über deinen Arbeitstag reden?«
»Ich habe jemandem wehgetan und die Polizei angelogen«, sagte Anna. Sie drückte zu fest auf das Messer, das durch den weichen Apfel glitt und ihren Daumen ritzte, zum Glück aber nicht so tief, dass Blut floss.
»Nun … also, das musst du mir jetzt erklären.« Nono rührte eine kleine Schale Brühe in den Reis und die Pilze.
»Nein, das kann ich nicht. Es geht um etwas, das mir jemand vertraulich mitgeteilt hat.«
»Aber die Lüge diente doch dazu, jemandem zu helfen?«
»Das glaube ich. Ich hoffe es.« Anna warf die letzten Apfelstückchen in die Schale und gab Nüsse und Rosinen dazu, dann rührte sie das Dressing an.
Nono hielt inne und sah sie an. »Was wirst du tun, wenn deine Lüge auffliegt?«
»Mich entschuldigen«, antwortete Anna.
Nono nickte und kümmerte sich wieder um den Topf mit dem Reis. »Ich habe heute dein Schreibtischterminal eingeschaltet, um meine Mail abzuholen. Du warst noch eingeloggt, und ich sah eine Nachricht von den Vereinten Nationen wegen dieses humanitären Hilfsprogramms des Generalsekretärs. Sie schicken jede Menge Leute hinaus zum Ring.«
Anna bekam schlagartig Schuldgefühle, als wäre sie bei etwas Verbotenem erwischt worden.
»Mist«, sagte sie. Normalerweise fluchte sie nicht, aber manchmal schien es ihr angebracht. »Ich habe noch nicht geantwortet.« Das fühlte sich schon wieder wie eine Lüge an.
»Wolltest du darüber reden, ehe du dich entscheidest?«
»Natürlich, ich …«
»Nami ist fast zwei«, fuhr Nono fort. »Wir sind seit zwei Jahren hier. Irgendwann wird die Frage, ob wir bleiben, darüber entscheiden, wer Nami für den Rest ihres Lebens sein wird. Sie hat Verwandte in Russland und Uganda, die sie noch nie gesehen haben. Wenn unser Kind noch länger hier bleibt, wird es auch nie dazu kommen.«
Nami bekam den gleichen Medikamentencocktail wie alle Neugeborenen auf den äußeren Planeten. Die Mittel förderten das Knochenwachstum und bekämpften die schlimmsten Auswirkungen der niedrigen Schwerkraft auf die Entwicklung der Kinder. Nono hatte natürlich recht. Wenn sie noch viel länger blieben, würde Nami den langen, schmalen Körperbau entwickeln, der mit dem Leben hier draußen einherging. Mit dem Leben unter niedriger Schwerkraft. Damit hätte Anna sie dazu verurteilt, ihr Leben außerhalb der Heimatwelt zu verbringen.
»Europa sollte immer nur etwas Vorübergehendes sein«, sagte Anna. »Es war ein guter Einsatzort. Ich spreche Russisch, die Gemeinde hier ist klein und schwach …«
Nono drehte den Herd ab, setzte sich zu ihr und streckte die Hände über den Tisch aus. Auf einmal kam Anna die Tischplatte aus Holzimitat billig vor. Schäbig. Mit erschreckender Klarheit sah sie für Nami eine Zukunft vor sich, in der es niemals echtes Holz geben würde. Es fühlte sich an, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen.
»Ich bin nicht verdrossen, dass wir hierhergezogen sind«, erklärte Nono. »Das war unser Traum. Wir wollten Orte wie diesen hier sehen. Aber als du um deine Versetzung hierher gebeten hast, warst du erst im dritten Monat.«
»Es war so unwahrscheinlich, dass sie mich genommen haben.« Anna hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.
Nono nickte. »Aber sie haben dich genommen, und nun kommt dieser Auftrag für die UN. Als Beraterin des Generalsekretärs zum Ring fliegen. Und unser Baby ist noch nicht einmal zwei.«
»Ich glaube, auf diesen Posten haben sich zweihundert Leute beworben«, entgegnete Anna.
»Sie haben dich ausgewählt. Sie wollen, dass du dorthin fliegst.«
»Es war so unwahrscheinlich …«, setzte Anna an.
»Sie entscheiden sich immer für dich«, unterbrach Nono. »Denn du bist etwas Besonderes. Das sehen alle, und ich sehe es auch. Schon bei unserer ersten Begegnung habe ich es erkannt, als du in Uganda auf dem Kirchentag deine Ansprache gehalten hast. Du warst so nervös, dass du sogar deine Notizen um dich verstreut hast, aber im Zuschauerraum hätte man eine Stecknadel fallen gehört. Du konntest gar nicht anders, du warst glänzend.«
»Ich habe dich aus deinem Land gestohlen«, erwiderte Anna. Das sagte sie immer, wenn Nono darüber
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