Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Moment geht auf allen Schiffen, die zugeschaltet sind, etwas Ähnliches vor. Wir stehen an einem Wendepunkt, an dem wir, wir alle hier, eine Entscheidung treffen müssen. Natürlich haben wir Angst, wir trauern, wir sind traumatisiert. Keiner hier ist wirklich sicher, was das Richtige ist. Und doch …«
Im Hintergrund ertönte das unverkennbare Ploppen von Gummigeschosspistolen. Anna zögerte einen Moment mit bleichem Gesicht, dann räusperte sie sich und sprach weiter.
»Gewalt ist oft eine Antwort auf diese Ängste. Ich hoffe aber sehr, dass wir zusammenkommen und …«
»Sie wird mitten in der Predigt sterben«, sagte Cortez. Clarissa hatte nicht bemerkt, dass er hinter ihr eingetreten war, und seine Nähe nicht gespürt. »Ich empfinde eine ungeheure Achtung für diese Frau.«
»Aber Sie glauben, dass sie sich irrt.«
»Ich halte ihren Optimismus für verfehlt«, erklärte Cortez.
»… wenn wir bei unseren Angriffen auf die Station und den Ring eskalieren«, fuhr Anna fort, »dann müssen wir damit rechnen, dass sich der Kreislauf der Gewalt fortsetzt und dass die Maßnahmen immer drakonischer und gefährlicher werden, bis eine Seite vernichtet ist. Ich wünsche mir …«
»Was würde sie wohl über Ihren Pessimismus sagen?«, fragte Clarissa.
Cortez sah sie überrascht und auch ein wenig amüsiert an. »Über meinen Pessimismus?«
Clarissa kämpfte den übermächtigen Drang nieder, sich zu entschuldigen. »Wie sonst würden Sie es nennen?«
»Wir haben da draußen dem Teufel ins Auge geblickt«, erklärte Cortez. »Ich würde das Realismus nennen.«
Du hast nicht dem Teufel ins Auge geblickt, dachte sie. Du hast eine Menge Menschen sterben sehen. Du hast keine Ahnung, was das wahre Böse ist. Dann hatte sie das Gefühl, ihr Erinnerungsvermögen setzte aus, und sie war wieder auf der Cerisier , wo Rens Schädel unter den Schlägen ihrer nackten Hand nachgab. Es gibt einen Unterschied zwischen einer Tragödie und dem Bösen, und dieser Unterschied bin ich.
»Kapitän! Das Maschinendeck ist unter Beschuss!«
Cortez drehte sich zur Brücke um, stieß sich ab und flog ungelenk durch die Luft. Ehe sie ihm folgte, warf Clarissa einen letzten Blick auf Anna, die noch auf dem Bildschirm zu sehen war. Die Priesterin beugte sich vor und bewegte die Hände, als könnte sie durch die Kamera Gelassenheit und Klarheit auf alle übertragen, die gerade zuschauten.
»Wie viele sind gefallen?«, wollte Ashford wissen.
»Darüber habe ich keine Informationen, Sir«, meldete Jojo. »Ich habe aber einen Videofeed.«
Der Monitor erwachte blinkend zum Leben. Das Maschinendeck flackerte, die Darstellung bekam Klötze, dann war das Bild wieder da. Ein Dutzend von Ashfords Männern richteten die Gewehre auf eine Drucktür, die zu fast einem Drittel geschlossen war. Ashford beugte sich in den Gurten vor, um besser sehen zu können. Irgendetwas – ein winziges Objekt oder ein Artefakt im Videobild – sauste über den Bildschirm, dann wurde alles weiß. Als das Bild wieder stand, stieß Ashford einen wilden Fluch aus.
Durch die Öffnung strömten Bewaffnete wie der Sand im Stundenglas. Clarissa erkannte James Holden an den Bewegungen. Dank ihrer langen Besessenheit kannte sie ihn so gut wie ein Familienmitglied. Ebenso die große Gestalt hinter ihm, bei der es sich nur um Naomi handeln konnte, die Melba fast getötet hätte. Dann, am Ende, kam der Einzige, der bei null G auf dem Boden lief. Carlos Baca. Bull. Der Leiter der Sicherheitsabteilung und Ashfords Nemesis. Sein Apparat polterte langsam und schwerfällig über das Deck, die natürlichen Beine des Mannes waren zusammengebunden, damit sie nicht störten. Einer von Ashfords Leuten wollte schießen und wurde selbst erschossen. Er wand sich in der Luft wie eine durchgeschnittene Raupe. Ashford stieß eine Reihe halblauter Flüche aus. Anscheinend musste er nicht einmal innehalten und Luft holen.
»Sperren Sie die Umgebung ab!«, schrie der Kapitän. »Ruiz! Ruiz! Wir müssen jetzt schießen, wir müssen sofort schießen!«
»Das kann ich nicht«, antwortete die Frau. »Wir haben keine Verbindung.«
»Es ist mir egal, ob es instabil ist. Sie müssen sofort schießen.«
»Es ist nicht instabil, Sir. Es ist einfach nicht da.«
Ashford knallte die Faust auf das Steuerpult und schnitt eine Grimasse. Clarissa wusste nicht, ob er sich die Knöchel gebrochen hatte. Ausschließen wollte sie es nicht. Während der nächsten fünfzehn Minuten beobachteten sie die weitere
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