Abaton
alle Hoffnung schwinden. „Ich möchte mich eben nicht blamieren.“
Dieser letzte Satz war immerhin so nah an der Wirklichkeit, dass Edda bei dieser Vorstellung die Stimme zu versagen drohte. Und noch bevor sich die erste Träne des Selbstmitleids ihren Weg durch Eddas Make-up bahnen konnte, hatte Thorben die ganze Tragik dieses schönen Mädchens erfasst. Er warf einen kurzen verächtlichen Blick auf Linus, der Edda das angetan hatte. Doch der starrte nur fasziniert auf die wässrigen, wunderschönen Augen und auf die einzelne Träne, die sich da gerade auf den Weg machte. Und dann fühlte sich Linus unvermittelt an seine Großmutter erinnert. Die hatte vor ihrem Tod nur noch Musik von Adamo gehört und die gesamte Familie damit genervt. Ihr Lieblingslied hieß »Es geht eine Träne auf Reisen«. Jetzt endlich begriff Linus den Text.
Thorben jedoch beschloss zu handeln.
Er stellte sich vor Edda und war bereit, sie mit Klauen und Zähnen gegen alles Schmerzhafte zu verteidigen. Doch während er noch überlegte, was die richtige Herangehensweise sein könnte, meldete sich wieder dieser Linus zu Wort.
„Ich kann das auch. Zusammenfassen. Kann ich gut. Kein Problem.“ Dabei bemühte er sich, möglichst locker zu klingen.
Thorben fuhr herum, als hätte er eine Tarantelfamilie in seinem Hemd.
„Iiichch mach das!“, fauchte er und stellte sich in Kampfpositur vor Edda.
Sein Auftritt war so unfreiwillig komisch, dass Simon und Linus in Gelächter ausbrachen. Auch Edda verzog das Gesicht zu einem Grinsen, tat aber so, als müsste sie husten.
„Komm schon. Die hat ihr Opfer gefunden“, sagte Simon und zog mit Linus Richtung Zelt davon. Er war froh, dass Linus den Kürzeren gezogen hatte. Gern hätte auch er sich Edda zur Verfügung gestellt. Aber Linus war nun mal schneller gewesen. Und Simon hatte ihm den Vortritt gelassen. So war er nun mal, ganz groß, wenn es darum ging, ein Mädchen heimlich zu verehren.
„Mann, die ist die volle Härte. So ein Hohlkörper“, sagte Simon. „Und dieser Donut fällt voll drauf rein.“
Edda blickte den beiden hinterher.
Jetzt kam sie sich blöd vor, für jeden sichtbar in Gesellschaft des Farbwunders Thorben. Viel lieber wäre sie mit Simon und Linus gegangen. Aber der Auftritt in einer Stunde ging vor und sie wollte Thorben nicht das Herz brechen. Nicht jetzt. Und bestimmt nicht vor Linus, dem sie noch nicht verziehen hatte, dass er sie gezwungen hatte, ihm eine zu knallen. War also schon gut so, wie es war.
[ 1122 ]
Edda hatte Thorben gebeten, sie zu ihrem Zelt zu begleiten. Dort angekommen, öffnete Edda den Reißverschluss, schlüpfte hinein und kramte fünf zerknitterte Blätter aus ihrem Koffer und überreichte sie Thorben.
„Das sechste fehlt, glaub ich. Da stand aber eh nur ein Satz drauf.“
„Hoffentlich nicht der entscheidende!“ Thorben versuchte mal wieder zu scherzen.
Edda verzichtete auf eine Antwort.
„Ich zieh mich kurz um“, sagte sie stattdessen und rang sich ein Lächeln ab.
„Echt? Muss nicht sein. Du siehst ...“, sagte Thorben und wunderte sich, wie leicht dieses Kompliment über seine Lippen kam. Bis er begriff, dass er es noch gar nicht ausgesprochen hatte.
„Was sehe ich?“, fragte Edda.
„Toll ... toll aus ... ich meine wirklich sehr cool“, sagte Thorben und diesmal verhaspelte er sich gewaltig. „Findest du, ich sollte ... sollte mich auch ... umziehen?“ Dabei drehte er sich ein wenig nach links, dann nach rechts, um sich zu präsentieren.
Was sollte sie sagen? Und dass Thorben ihr zuvorkam, machte ihre Antwort nur schwieriger.
„Coole Farben, was? Von meiner Ma...“ Er schaffte es noch rechtzeitig, das zweite »Ma« zu verschlucken. „Zu Weihnachten.“
„Ich weiß“, sagte Edda. „Du solltest nicht so auf Äußerlichkeiten achten!“ Dann verschwand sie im Zelt.
„Woher weißt du das?“, rief er ihr hinterher.
Im Schutz des Zeltes verzog Edda das Gesicht – das hätte sie nicht sagen sollen. Vermutlich bildete er sich jetzt wer weiß was ein; von Seelenverwandtschaft oder so. Also schwieg sie erst mal.
„Liest du schon?“, fragte Edda schließlich. Und vernahm von draußen nur ein »Mhm«.
„Du bist echt genial!“, rief Thorben nach einer Weile durch die Zeltwand. Obwohl Edda den Aufsatz nicht geschrieben hatte, ging das Kompliment runter wie Öl.
„Das sagen alle!“, rief Edda nach draußen; mit gesenkter Stimme, die Bescheidenheit und Demut vor der eigenen Größe vermitteln sollte.
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