Abaton
Stundenkilometern, der andere ... Zu Fuß, dachte Linus. So ein blöder Gedanke in so einem Moment.
Grell das Licht. Schrill kreischte die Hupe der S-Bahn auf. Der Fahrer hatte Linus entdeckt. Linus hörte nichts mehr. Er gab sein Letztes. Sein Bestes. Noch 20 Meter. Die Bahn war da. Aus. Schluss. Dachte Linus. Und das genau hier, wo auch seine Eltern verschwunden waren.
Wieder war der Moment schrecklich profan. Kein Leben, das an ihm vorübereilte. Und das Licht am Ende des Tunnel war in seiner Situation wahrlich nur bittere Ironie des Schicksals. Noch 10 Meter. Die S-Bahn baute sich schon vor ihm auf wie eine Wand. 5 Meter. 3!
„Spring! Du musst springen!“ Irgendeine Stimme schrie es Linus zu. Er begriff in diesem Moment gar nicht, ob es seine eigene oder eine fremde Stimme war. Sie war einfach da, in ihm. Und er sprang. Und er flog. So weit, wie er noch nie geflogen war. Für einen Moment war es ihm in dem Gewirr aus Schatten und Licht, als hätte eine knochige Hand mit langen, dünnen Fingern nach ihm gegriffen und ihn aus der Gefahr herausgetragen.
Linus lag im Dreck des Gleisbetts.
Er hatte die Augen geschlossen. Und wartete, bis die Bahn ihn passiert hatte. Wartete, bis das Rauschen des Zuges im Tunnel verschwunden war. Dann erst öffnete er die Augen. Schwarz.
Alles war dunkel.
In der Ferne pendelte eine Funzel. Ein Schatten huschte darunter hindurch. Es war die Richtung, in die Linus musste. Der Nord-Süd-Tunnel. Die Abzweigung, in die die U-Bahn mit seinen Eltern fälschlicherweise geleitet worden war. Linus war wieder ganz bei sich. Und lachte. Lachte erleichtert auf. Und sein Lachen klang durch die Eingeweide der Stadt. Er richtete sich auf und spürte, dass er etwas in der Hand hielt. Es war der Mantel. Er hatte ihn auf seinem ganzen Weg mitgeschleift. Der Mantel des Fremden.
Wo war der Mann?
Und er überlegte, ob es dieser Fremde gewesen sein könnte, der ihn am Schlafittchen gepackt und vor der S-Bahn gerettet hatte. Oder hatte tatsächlich er selbst einen solchen Satz gemacht? Linus schaute zum Gleis. Das waren gute 10 Meter. Nicht nur ein neuer Weltrekord über 100 Meter, gleich noch einer im Weitsprung.
Linus schüttelte sich, um die Gedanken an die zurückliegenden Sekunden loszuwerden. Er wusste, dass Dunkelheit und Stress sich auf die Wahrnehmung auswirken können. Er hatte über all das gelesen. Und er hatte gelernt, dunkle Gedanken auszublenden.
Nichts sollte ihn von seiner Mission abbringen. Mochten sich seine Eltern auch nicht viel um ihn gekümmert haben, er war anders. Er würde ihnen beweisen, was es heißt, eine Familie zu sein. Er würde sie finden.
Linus ging weiter in die Dunkelheit hinein.
[ 1124 ]
Sie hatte doch das falsche T-Shirt angezogen, dachte Edda verzweifelt. Ebenso falsch war die knallenge Hose, deren Beine in schwarzen Stiefeln steckten – damit sie größer wirkte – und in denen sie jetzt auf dem sandigen Boden immer wieder einknickte.
Edda war auf dem Weg zur kleinen Bühne, wo jeder Teilnehmer in drei Minuten sich und seine Visionen präsentieren sollte.
Sie hatte das Gefühl, an einer Casting-Show teilzunehmen. Sie hatte gehört, wenn man auf der Bühne stand, machte das durch das Lampenfieber ausgeschüttete Adrenalin das fehlende Talent wett und man kam eine Runde weiter. Egal was man anhatte. Bis ihr Name aufgerufen wurde, hatte Edda allerdings vergessen, in welcher Casting-Show sie sich befand. Auch als wer oder was sie hier auftrat. Edda hasste sich plötzlich dafür, dass sie die falschen Sachen angezogen hatte. Ausgerechnet jetzt war es so still!
Sie stand auf der Bühne und fühlte 50 Augenpaare auf sich.
Die Campleiterin lächelte sie ermunternd an.
Edda blickte sich um.
Weit hinter dem Camp erkannte sie einen Schwarm Stare in der Luft. In perfekter Formation fliegend malten sie verschiedene Muster an den Himmel. Es waren Hunderte und jeder einzelne Vogel schien genau zu wissen, was er zu tun hatte. Warum weiß ich das nie?, fragte sich Edda.
„Also Edda?“
„Was?“
In dem Augenblick, als Edda die Bühne betreten hatte, war auch der letzte Rest dessen verschwunden, was Thorben für sie zusammengefasst hatte. Alles, was sie sich gemerkt oder jemals gewusst hatte, war weg. Stattdessen: Nichts.
Wenn es jetzt um Meditation gegangen wäre ... großartig. Doch damals in Indien hatte sie das nie erreicht, was ihr jetzt scheinbar mühelos gelang. Diese vollkommene Leere im Kopf. So groß wie das All. Aber selbst in dem Scheiß-All
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