Abaton
erkennen, was sich hinter oder über ihm befand. Aber die Scheiben spiegelten nichts wider. In den Waggons war es zu hell. Bis auf den letzten. Der Führerstand des letzten Wagens war dunkel. Linus sah es rechtzeitig, wartete, bis der Waggon ihn passierte, ging noch ein wenig mehr in die Hocke, um einen besseren Blick von der Wand hinter sich zu erhaschen. Und da war es! Das Gesicht! Nein. Kein Gesicht. Eine Fratze. Zwei Augen. Glänzend. Bedrohlich. Linus verharrte reglos.
Die S3 rauschte davon.
Die Gedanken in seinem Kopf rasten. Was hatte er gelernt? In dem Buch über die Strategien gegen Angst ... Den Feind überraschen. Tun, womit er nicht rechnet. Etwas sagen, was ihn vollkommen verwirrt.
„Papa, endlich ... Endlich hab ich dich gefunden!“ Linus zwang sich zu einem Lächeln. Er drehte sich um und leuchtete mit der Taschenlampe über sich. In diesem Moment breitete der Fremde die Arme aus, sodass sich die Schöße seines Mantels wie die Flügel einer Krähe spannten, sprang über Linus hinweg und lief über die Gleise davon. In die Richtung, in die die S3 verschwunden war.
Linus’ Überraschungsmanöver hatte offenbar gewirkt.
Linus war verblüfft und grinste dann stolz. Er entspannte sich ein wenig.
Was für ein Penner, dachte er bei sich. Dann sah er, dass der Fremde auf den Gleisen stehen blieb. Wer war das? Lichter tauchten hinter ihm auf. Die S7. Linus hatte den Plan im Kopf. Genau diese Strecke müsste er gehen, um zu der Stelle zu kommen, an der seine Eltern verschwunden waren. Und das hier war der lebensgefährliche Engpass. Hier gab es auf 300 Metern keine Ausweichmöglichkeit. Rechts und links der Gleise befanden sich die Stromabnehmer. Er konnte diese Strecke nur meistern, wenn er die kurze Phase von 40 Sekunden nutzte, in der hier nach der Passage der S7 keine Bahn fuhr.
Aber der Fremde war jetzt auf den Gleisen.
Die S7 ratterte heran.
„Weg da!“, schrie Linus. „Hierher! Schnell!“
Doch der Mann konnte ihn wegen des Lärms der S7 nicht mehr hören. Linus wollte nicht hinschauen, doch sein Blick bohrte sich in den Tunnel. Die Lichter der Bahn, der schwarze Schatten des Mannes in dem Mantel. Der einfach nur dastand. Gelähmt? Geschockt?
Linus konnte sein Gesicht nicht sehen. Konnte nicht sehen, dass der Mann ganz ruhig war.
Linus schloss die Augen. Der Tod des Mannes war unausweichlich. Sekunden später rauschte die S7 an Linus vorüber. Kein Hupen? Kein Signal? Kein Bremsen ...? Linus öffnete die Augen. Schaute in den Tunnel. Dunkelheit. Irgendwo da musste der Fremde liegen. Tot. Zerfetzt. Linus zwang sich, seine Gedanken zu sammeln. Wenn er seine Chance nutzen wollte, die Strecke zu passieren, musste er jetzt los. Vorbei an der Leiche des Mannes.
Linus zögerte, dann dachte er an seine Eltern und begann zu rennen. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe lenkte seine Schritte über die Schienen. Linus wusste, dass er nach wenigen Metern an die Stelle kam, an der der Mann zuletzt gestanden hatte. Das Licht erfasste einen Stoffzipfel. Linus zwang sich hinzuschauen.
Da lag der Mantel. Keine Spur jedoch von dem Mann. Kein Blut. Nichts. Das konnte nicht sein.
Linus hob den Mantel hoch. Nichts war darunter zu sehen. Er hatte keine Zeit mehr. Sekunden nur noch. Schon viel zu viel Zeit hatte er vertändelt. Linus hörte schon die nächste S-Bahn. Es waren noch gut 200 Meter, die vor ihm lagen. Oder sollte er besser zurück? Nein! Niemals zurück. Er war so nah dran an seinem Ziel. Er rannte los. Der S-Bahn entgegen. Die Lichter leuchteten schon in den Tunnel hinein, Linus entgegen. Er hatte längst den Blick auf die Schwellen aufgegeben. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nur noch den Lichtern, die immer näher kamen. Noch 100 Meter. Linus war noch nie ein großer Sprinter gewesen. Er war auch kein Langstreckenläufer. Mit dem Skateboard oder dem BMX, da war er gut unterwegs. Aber zu Fuß ... Außerdem trug er Stiefel. Wahrlich keine Sprintschuhe. Aber er war ja auch nicht davon ausgegangen, hier unten einen neuen Weltrekord über 100 Meter hinlegen zu müssen. Die Lichter strahlten hell. Die Bahn war über die letzte Weiche in den Tunnel eingebogen. Es gab kein Zurück mehr. Linus musste es schaffen. Sein Puls raste. Er nahm gar nicht mehr wahr, ob er überhaupt noch atmete. Er warf die Beine nach vorne, schwang die Arme, um alle Kraft seines Körpers in die Vorwärtsbewegung zu legen. Wie war das in der Physikstunde damals gewesen? Zwei Züge rasen aufeinander zu. Der eine mit 85
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