Abaton
strahlte vor Freude, klatschte in die Hände und entließ die Jugendlichen, die bis zum Abendessen ihre Zeit frei gestalten konnten.
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Kaum waren die Jugendlichen in verschiedene Richtungen davongeschwirrt, kehrte die Campleiterin in ihr mobiles Büro zurück. Sie klappte ihren Laptop auf und gab Eddas Namen und ihren Wohnort ein. Auf dem Bildschirm tauchte Eddas Profil auf: Geburtsdatum. Geburtsort. Aufgewachsen mit der Mutter in einer Sekte in Indien. Wohnhaft nun bei ihrer Großmutter in der Nähe von Cuxhaven, nachdem die Mutter in die Psychiatrie eingewiesen werden musste. Keine Geschwister. Der Vater unbekannt – womöglich der Sektenführer. Schule. Soziale Netzwerke. „Besondere Interessen“: Mode und Musik.
Die Campleiterin drückte eine Nummer auf der Tastatur, um ihre Anfrage für die Übertragung zu verschlüsseln. Gemeinsam mit einem Foto von Edda schickte sie sie an die Zentrale. Mit der Bitte um Überprüfung. Die Antwort kam postwendend.
„Keine Entsprechung in der schulischen Leistung oder außerschulischen Aktivitäten. Auch in sozialen Netzwerken und Chatrooms keine Kommentare zu relevanten Themen.“
Die Campleiterin warf einen Blick auf das lange Protokoll aller Diskussionsbeiträge, die Edda in den letzten zwei Jahren im Internet gemacht hatte: Bei Chats, Facebook und anderen sozialen Netzwerken. Sie drehten sich ausschließlich um Jungs, Mode, Schminke und Musik. Auch der Satzbau und die Rechtschreibung dieser Beiträge ließen nicht auf eine der besonderen Fähigkeiten schließen, die in ihrem Wettbewerbspapier oder bei ihrem offenbar sehr spontanen Auftritt zu erkennen waren. Mit anderen Kindern aus dem Camp oder Forschungsgruppen auf Eddas Schule gab es ebenfalls keine Überschneidungen. Eddas Freunde in den Netzwerken zeichneten sich durch keinerlei intellektuelle Betätigung aus. Außer einer gewissen Sophie.
Die Campleiterin lächelte, als sie wenig später die Posts von Sophie auf dem Bildschirm hatte. Sie schrieb in gutem, klarem Deutsch von der notwendigen Abkehr vom Konsum.
Die Campleiterin tippte ein paar Worte auf der Tastatur.
„Hat möglicherweise eine gleichaltrige Schulkameradin das Papier schreiben lassen, um hier einen Jungen kennenzulernen.“
Sie drückte auf »Senden«, löschte den Datenverkehr und klappte ihren Laptop wieder zu. Für einen Augenblick wurde sie nachdenklich. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich Kinder im Camp einfanden, die nicht den Erwartungen entsprachen oder ganz andere Motive verfolgten, als sie in den Arbeiten geäußert hatten.
Zum Glück verfügte die Organisation über die notwendigen Mittel, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Aber jemand, der sich wie Edda gar nicht ehrlich qualifiziert hatte und dennoch mit einer besonderen Sicht auf die Zukunft überraschte, hatte sie in den Camps, die sie bisher geleitet hatte, noch nie erlebt. Sie nahm sich vor, Edda genau im Auge zu behalten.
Und sie beschloss, Edda sicherheitshalber der vorgesehenen Behandlung zu unterziehen. Sie würde es, wie all die anderen, ja sicher nicht bemerken.
„Alles in Ordnung“, sagte sie zu sich, glaubte es aber selbst nicht so ganz. Sie war beunruhigt. Obwohl doch alles seinen normalen Gang ging. Irgendetwas schien anders. Sie konnte nicht sagen, was; es war nur ein Gefühl. Doch im Laufe der letzten Jahre hatte die ehemals so nüchterne und nur logisch denkende Wissenschaftlerin gelernt, auch ihrem Gefühl zu vertrauen. Anfangs hatte es sie verwirrt, dass ein Konzern wie gene-sys genau darauf Wert legte. Nun aber war sie sehr froh darüber. Sie hatte etwas wiedererlangt, das sie in ihrem Leben vorher erfolgreich verdrängt hatte.
Die Trennung von ihrem Freund damals, der Umzug nach Berlin; all das war gut gewesen. Hatte sie stärker, bewusster, glücklicher gemacht. Sie war nun Teil einer wichtigen Arbeit. Vielleicht der wichtigsten überhaupt; weltweit. Sie musste wachsam sein, dass nichts, nicht das Geringste, den Erfolg dieser Arbeit verhinderte. Es war wichtig, dass sie auch wahrnahm, was sie fühlte.
Sie schaute aus dem Fenster ihres Wohnwagens auf das Camp. Die 50 Jugendlichen, die ausgebildeten Pädagogen, die ihr bei der Arbeit halfen – alle schienen weiter völlig ahnungslos. Aber was irritierte sie dann so?
Die Campleiterin rekapitulierte noch einmal, was bisher geschehen war. Sie fand keine Erklärung. Also beschloss sie, aufmerksam zu bleiben. Schließlich widmete sie sich der Routine. Sie leitete ein, was am ersten Abend eines
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