Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
der Kellner ging, steckte ihm Simon einen Hunderter zu.
„Stimmt so!“ Jetzt versuchte sich auch Simon an einem russischen Akzent. „Bin ich Kenner. Bist du Kellner!“
Der Kellner nickte nur und verschwand flott, weil er dachte, dass Simon mit dem Trinkgeld ein Fehler unterlaufen war und er ihn gleich bemerken würde. Simon aber stolzierte zu Nikto, der sich köstlich amüsierte.
„‚Bist du Kellner!‘ Aus dir wird nie ein Russe.“ Er winkte Simon zu sich und bereitete ihm einen weißen Toast mit Butter, Kaviar und ein wenig Zitronensaft. Simon schob das Häppchen in den Mund. Und verzog sofort das Gesicht. Er lief ins Bad und spuckte alles ins Klo. Dann spülte er den Mund mit Wasser nach.
„Der Scheiß ist so teuer? Ist doch nur salzig.“
„Schmeckt, weil es teuer ist. Die Menschen nehmen den Schein für das Sein, viel zu oft.“ Er sah Simon an. „Du auch!“ Nikto warf ein Bündel Scheine in die Luft und ließ Hunderter auf Simon herunterregnen.
„Wie? Wann?“
„Jetzt ... Schein. Sein.“
„Verstehe ich nicht.“
„Ich, zum Beispiel. Kennst du mich?“ Er ließ eine Pause. „Wer bin ich?“
Simon überlegte, was er antworten sollte. Aber dann griff er nach dem Burger und begann zu essen. Essen, das er kannte und mochte. Er wollte jetzt nichts Ernstes reden und Nikto hakte nicht weiter nach. Sie schlugen sich den Bauch voll. Draußen war es dunkel geworden. Der Wind trieb Schneeflocken um die Kugel des Fernsehturms.
„Wie lange können wir bleiben?“, fragte Simon. Sie hatten sich vor den Plasmabildschirm gehockt und spielten » Grand Theft Auto « . Da machte Simon keiner was vor. Auch wenn seine Mutter ihm keines der Spiele erlaubt hatte, hatte er genügend Freunde gehabt, bei denen er hatte trainieren können. „Er hatte genügend Freunde gehabt.“ Stimmte das? Hatte er je einen Freund gehabt, mit dem er so schräge, großartige Sachen erlebt hatte wie mit Nikto in den letzten 24 Stunden? Simon schaute zufrieden zu dem verrückten Russen, der sich abmühte, seinen Wagen auf der Strecke zu halten. Er scheiterte.
„Is eben kein Lada!“, spottete Simon. Da fiel Nikto über ihn her und sie balgten sich. Griffen zu den Pistolen mit Gummipfeilen, die sie sich zusammen mit zwei Bobby-Cars aus dem Karstadt hatten besorgen lassen. Sie setzten ihren digitalen Kampf in der Realität fort. Rollten auf den Bobby-Cars durch die Suite, schossen sich ab und schließlich verschanzte sich jeder in seinem Zimmer. Es entwickelte sich ein Stellungskampf. Deutschland gegen Russland. Es schien auf ein Patt hinauszulaufen. Bis Simon entdeckte, dass die Grissini perfekt als Munition funktionierten. Eingedeckt mit genügend tödlichem italienischen Trockenbrot wagte er einen Ausfall und erstürmte Niktos Festung. Aber Nikto war verschwunden. Simon schaute sich um. Nikto hatte sich ins Bad geflüchtet. Gerade als Simon auch diese letzte Zuflucht einnehmen wollte, hörte er leises Seufzen hinter der Tür zum Bad. Simon hielt inne. Nikto schien zu weinen. Simon zog sich zurück. Er ging in sein Zimmer und stellte das Sofa wieder richtig hin, ordnete die Polster. Die Stühle. Er schaltete den Fernseher auf TV und schaute irgendeinen Doku-Soap-Scheiß. Mit seinen Gedanken war er bei Nikto. Warum weinte er?
„He, Feigling. Hast du aufgegeben?“ Nikto stand wieder in der Tür und tat, als wäre nichts gewesen. Simon aber spürte, dass die Leichtigkeit verschwunden war.
„Bin müde“, wich er aus.
„Nein“, schüttelte Nikto den Kopf. „Bist du nicht müde. Weil ... eine Überraschung hab ich noch.“
Simon sah ihm zu, wie er sich anstrengte, die verlorene Leichtigkeit wieder zurückzuholen. Und als es klopfte, hob er den Finger, als wäre er Simons Vater, der wie damals vor vielen Jahren den Weihnachtsmann vor der Tür wähnte.
„Zimmerservice“, klang die Stimme hinter der Tür. Nikto öffnete und zwei junge Zimmermädchen kamen herein. Simon hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil es hier aussah wie Sau. Aber das schien die Mädchen gar nicht zu stören. Sie gingen an die Stereoanlage, postierten da ihren iPod, stellten Lady Gaga ein und begannen sich auszuziehen. Nikto setzte sich strahlend neben Simon. Der wusste gar nicht, wo er hinschauen sollte. Heiß wurde ihm. Und er spürte, wie er rot anlief. Aber was er da geboten bekam, war einfach zu verlockend, als dass er wegschauen konnte. Dass man sich so verbiegen kann. Simon staunte. Und folgte gierig der professionellen Dramaturgie des
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