Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
lassen wie einen Idioten. Linus spürte, wie sich in seiner Brust etwas zusammenzog und in einen scharfen Schmerz verwandelte. Er holte tief Luft, doch gleich mit dem Ausatmen waren die dunklen und drückenden Gedanken wieder da.
Er ließ die Blicke durch die Halle wandern. Unbewusst suchte er nach Bobo. Wohin sich der Dicke in seinem grotesken Aufzug wohl verzogen haben mochte? Linus erspähte einen Stand mit Süßigkeiten, bunt und glänzend. Einen, wie es ihn auch in Köln gegeben hatte, dachte er. Als er klein war und seine Eltern ihm erlaubt hatten, sich an genau solch einem Stand seine spezielle Mischung aus Cola-Flaschen, Lakritzschnecken und roten Himbeeren zusammenzustellen. Linus blieb stehen und starrte auf die bunten Sachen – wie mächtig und autark er sich vorgekommen war, als er die kostbare Beute mit einer Zange in den Zellophanbeutel hatte fallen lassen. Im Bewusstsein, dass jemand hinter ihm stand und sich daran freute, dass er tat, was er tat. Wie schön das völlig Normale, ja, Profane in der Erinnerung werden konnte. Oder war es gar nicht profan? War das Leben viel kostbarer, als er gedacht hatte?
Für Linus war nichts mehr, wie es war, seit der Vorhang, durch den er die Welt zuvor gesehen hatte, zerrissen war. Die Normalität. Mit dem, was die anderen normal nannten, konnte Linus nichts mehr anfangen. Er konnte nicht mehr so leben, wie sie es taten. Wusste kaum mehr, wie er ein normales Gespräch mit ihnen hätte führen sollen. Er müsste lügen, um sie nicht zu verstören. Und er hasste Lügen. Er hatte gar keinen Bezug mehr zu den Menschen. Oder war das schon immer so gewesen?
Linus spürte, wie ihn plötzlich Heißhunger nach etwas Süßem überkam. Er trat an den Stand, nahm eine von den schillernden Tüten und begann, sie mit Colaflaschen, Schnecken und Himbeeren zu füllen. Neben ihm stand eine dicke Mutter mit ihren beiden Töchtern, die sich darum zankten, was die Mutter in die Tüte packen sollte, auf der anderen Seite ein älterer Herr und an der Kasse neben der Waage eine junge Frau mit einer lilafarbenen Strähne in ihrem kurzen Haar, die per Handy mit ihrem Freund telefonierte. Als seine Tüte zu drei Vierteln voll war, fiel Linus ein, dass er nicht genügend Geld dabeihatte. Aber er wollte nicht zurück zu Simon und Edda. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als gäbe es nichts Wichtigeres, als möglichst schnell eine Handvoll von diesem Zeug in den Mund zu bekommen und es zu zerkauen. Er verdrängte, was für einen verdammten Bauchschmerz er von den Süßigkeiten immer gehabt hatte. Dass er trotzdem nicht hatte aufhören können, den Scheiß zu essen. Linus wartete, bis sich die Kassenfrau dem hageren Mann in dem dunklen, weiten Mantel zuwandte, der scheinbar zu dumm war, das Prinzip mit der Selbstbedienung zu kapieren.
„Danke“, dachte Linus und grinste. Er hielt sich im Hintergrund, am Rande des Sichtfeldes der Kassenfrau und tat so, als wolle er an ihr vorbei auf die andere Seite des Wagens. Dann verschwand er ganz aus ihrem Augenwinkel. Der hagere Mann bekam es mit und war zufrieden. Er zahlte, sah sich um. Aber auch er hatte den Jungen nun aus den Augen verloren.
Linus mischte sich unter eine Gruppe von Reisenden, die mit ihren Kofferkulis Richtung Bahngleise strebten. Gierig langte er in die Tüte und stopfte sich den Mund voll. Der herrlich pappsüße Geschmack rief sofort Bilder und Empfindungen aus der Kindheit in seinem Kopf auf. Das Glück, das es auch in seinem Leben einmal gegeben hatte. Als seine Eltern noch nicht ausschließlich an ihre wissenschaftlichen Experimente dachten, sondern auch an ihn.
Linus ging schneller, nahm die Rolltreppe ein Stockwerk tiefer und folgte den Toilettenschildern. Er hatte nicht bemerkt, dass ihm zwei Augenpaare gefolgt waren. Augenpaare zweier Männer. Sie verständigten sich kurz mit Blicken und folgten Linus.
Linus fand die Tür zu den öffentlichen Toiletten. Gerade noch rechtzeitig. Er kaute immer noch mit vollem Mund, während er sich an eines der Urinale stellte und die Hose öffnete. Er hatte so lange ausgehalten und war so erleichtert, dass er sich für einen kurzen Augenblick richtiggehend glücklich fühlte. Linus hörte, wie hinter ihm die Tür aufging, aber er merkte nicht, dass die zwei Männer die Toilette betraten. Einer der beiden stellte sich neben ihn und blickte ihn an. Er trug einen billigen Anzug und schlecht geputzte Schuhe.
„Hast du Lust, dir ein bisschen Geld zu verdienen?“, fragte der Mann.
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