Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
wie eine graue, tote Schlange. Olsen bückte sich, schaute über den Tisch. Der Staub lag in unterschiedlicher Dicke. Mit dem Finger fuhr er die Kante entlang, an der die dünnere in die dickere Schicht überging. Es ergab sich ein Rechteck, fast ein Quadrat. Dazu das Kabel. Hier musste ein Computer gestanden haben. Wie war der verschwunden? Hatte er ihn mitgenommen? War er gestohlen worden? Olsen besah sich die Schallschutztür, klopfte an die Wände. Dumpf war der Klang. Auch auf die Wände war Schallschutz aufgebracht worden. Was hatte er hier veranstaltet? Hundebellen lenkte Olsen ab.
Draußen spielte ein kleiner Junge mit einem Pudel. Seine Mutter lud Tannengrün in ihren schwarzen SUV. In den Läden gab es längst Nikoläuse. Olsen hatte sie beim Einkaufen von Proviant gesehen. Wie lange war er weg gewesen? „Simmer ad widder da“, hatte der Gärtner gesagt. Das klang nicht, als wäre er lange fort gewesen. Auch der Staub auf dem Tisch zeugte nicht von Monaten. Zwei, drei Wochen vielleicht.
Olsen schaute dem Jungen zu. Dem Hund. Er lächelte. Hunde waren ihm nah. Ihm kam der Hund wieder in Erinnerung. Timber. Sein Hund? Wenn ja, wo war er?
Olsen ging in das kleine Badezimmer. Nichts hier weckte eine besondere Erinnerung. Er öffnete das winzige Fenster, um Luft in den stickigen Raum zu lassen. Durch das Fenster sah er dann das Autowrack, das hinter dem Haus stand. Sofort tauchten wieder die Bilder des schlimmen Unfalls auf. Der Moment, in dem er aus dem Wagen geschleudert wurde. Das entsetzliche Knacken. Die Stille, als er auf dem Asphalt lag. Das Flugzeug, das am Himmel vorüberzog. Der Vogel im Baum. Der auf einmal bunt war und in einer Palme saß. Der vertrieben wurde von dem dumpfen Flappflappflapp eines landenden Hubschraubers ...
Olsen führte die Erinnerung an den Unfall in eine noch tiefere Erinnerung. Eine vollkommen stumme Erinnerung, die Olsen Sekunden nach dem Unfall hatte. Es war wie bei der Puppe in der Puppe in der Puppe. Olsen erinnerte sich an Bilder aus Schwarzafrika. Er war es, den er aus dem Heli springen sah. Zusammen mit anderen. Alle trugen Tarnanzüge. Sie spurteten zu ein paar Häusern. Eröffneten das Feuer. Menschen fielen getroffen zu Boden. Schwarze Menschen. Männer. Frauen. Kinder.
Olsen zwang diese Erinnerung aus seinem Hirn. Er spürte pulsenden Schmerz. Wie damals nach dem Unfall, als er auf dem noch sonnengewärmten Asphalt liegen blieb, ging auch jetzt Olsens Hand zu seinem Kopf. Dorthin, wo der Unfall seine tiefste Spur hinterlassen hatte. Olsen war sich sicher.
Er hatte gemordet.
| 2208 |
Vor dem Fenster des Bistros marschierten die Menschen durch Berlin-Mitte. Und sie taten das im Takt der Musik. Als sei es eine Flash-Mob-Choreographie. Drinnen hatte Linus Musik aus den Dateien auf seinem Laptop ausgesucht. Es war ein Spiel, auf das er mit Edda gekommen war. Sie hatte von den Scheibenwischern erzählt, die sie als kleines Kind immer beobachtet hatte und dachte, dass sie den Takt angaben, in dem die Menschen bei Regen über die Straße zu gehen hatten. Kanye West, Iyaz oder Green Day gaben nun den Takt an und es war, als steuerten sie tatsächlich die Passanten, die draußen vor den großen Scheiben durch das kalte Berlin eilten. Linus und Edda amüsierten sich köstlich, wenn sie wieder einen entdeckten, der absolut synchron zu der Musik lief. Simon amüsierte das auch, aber er konnte nicht darüber lachen. Er ahnte, dass die Fröhlichkeit der beiden anderen mehr mit dem Einander-nah-Sein zu tun hatte.
„Macht sechsundvierzig fuffzich“, sagte die Bedienung, legte Simon den Beleg hin und servierte dann an allen Tischen die Rechnungen. Es war nach ein Uhr und das Frühstücksbüffet war geschlossen worden. Das Lachen verklang. Edda, Linus und Simon hatten gehofft, dass sie noch länger hier hätten sitzen können. Draußen war es wirklich scheißkalt geworden. Irgendein Wetterfrosch in einem der Privatradios hatte etwas von einem frühen Wintereinbruch gefaselt und Linus und Edda hatten über den „Einbrecher Winter“ gelacht.
Jetzt sollten sie zahlen. Nur wie? Zusammen hatten sie keine fünfzehn Euro mehr. Sie schauten sich an. Irgendwie hatte jeder gehofft, einer der anderen hätte noch mehr von dem Geld, das sie untereinander aufgeteilt hatten, übrig behalten.
„E gleich mc-Quadratkacke“, sagte Linus. So war das eben immer, wenn man keinen Plan hatte. Er sah, wie die Bedienung an den anderen Tischen kassierte und sein Blick wanderte unwillkürlich
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