Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
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In einem hypnotisch gleichmäßigen Rhythmus tauchten die Mittelstreifen der Landstraße im Scheinwerferlicht auf. Olsen wollte sie nicht registrieren. Aber sie waren da und je mehr er sie aus seiner Wahrnehmung verdrängen wollte, desto präsenter waren sie. Ihm war klar, dass das eine Folge seiner Schwächung war. Olsen hatte viel Blut verloren. Doch er konnte nicht einfach anhalten. Er musste über die Grenze nach Belgien. So schnell wie möglich. Er gab Gas. Der Rhythmus der hellen Streifen wurde schneller. Plötzlich stand er da. Mitten auf der Straße. Er schaute ihn an. Ganz ruhig. Als hätte er ihn erwartet. Olsen riss das Steuer herum. Ein Reflex, den er sich auch später nie erklären konnte. Er war trainiert darauf, keine Rücksichten zu nehmen. Aber der Blick dieses Hundes in dieser Nacht auf dieser Straße – der Wagen überschlug sich. Olsen schreckte aus dem Schlaf auf.
Schweißgebadet hockte er in seinem Bett und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Köln. Aachener Straße. Sein Zuhause. Sein Bett.
„Timber“, flüsterte Olsen. Der Hund auf der Straße war sein Hund. War Timber. Er hatte ihn nach dem Unfall bei sich aufgenommen. Den Hund, der seinen schlimmen Unfall verursacht hatte. Olsen wusste, dass es so gewesen war. Aber er wusste nicht, warum. Er stand auf, um etwas zu trinken. Es war unmöglich, jetzt wieder einzuschlafen. Er trank aus dem Wasserhahn, dann schaute er sich im Spiegel an. An seinem Bauch, in der Höhe der Milz, war die Wunde, an die er sich im Traum erinnert hatte. Sie war genäht worden, das konnte er sehen. Wenn er auf dem Weg nach Belgien gewesen war und danach in Köln lebte, war es ziemlich logisch, dass man ihn hier behandelt hatte. Olsen zog sich an und machte sich auf die Suche nach einem Internetcafé, das rund um die Uhr geöffnet war.
Olsen begriff, dass er Linus nur finden konnte, wenn er noch mehr über sich selbst erfuhr. Er hatte am selben Abend noch den alten Gärtner nach Linus gefragt. Ein Junge, der ihn besucht hatte. Aber der Mann konnte sich an keinen Jungen erinnern. Keiner der Angestellten aus der Gärtnerei konnte das. Der Hausmeister aber wusste, dass er Linus vor ein paar Wochen, Monaten vielleicht, begegnet war. Linus hatte einmal hier gewohnt. Dann waren seine Eltern gestorben. Oder verschwunden. So genau wusste der Hausmeister das nicht mehr. Bei Olsen aber löste das ein Nicken aus. Verschwunden. In Berlin. In der U-Bahn ...
Olsen zahlte an der Kasse des Internetcafés für eine Stunde. Das Geld, das er Dr. Fischer abgenommen hatte, würde nicht ewig reichen, dennoch beschloss Olsen, sich in den nächsten Tagen einen Computer zuzulegen. Für den Moment musste der billige Aldi-Rechner hier reichen. Er wählte sich ins Netz ein und suchte nach den Kölner Kliniken. Er schrieb sich alle Adressen und Telefonnummern auf. Nach weniger als zwanzig Minuten war er durch. Aus einer Laune gab er „Olsen“ als Suchbegriff ein. Er durchkämmte die vielen Tausend Links zumindest oberflächlich und gab dann irgendwann auf. Er fand keinen erkennbaren Hinweis auf sich selbst. Er versuchte es noch einmal mit „Olsen“ und „Timber“. Zu seiner Überraschung gab es fast vier Millionen Treffer. Dann fügte er „Hund“ hinzu. Es gab immer noch über sechshunderttausend Links. Und zusammen mit „Köln“? Die Trefferzahl halbierte sich. Schließlich setzte er alle Begriffe in Anführungszeichen und fügte die Aachener Straße hinzu. Vier Treffer! Einer der Treffer war ein Link zu einem Youtube-Video. Olsen klickte ihn an und sein Gesicht hellte sich auf. » Skateboarding dog – starring Timber Olsen « hieß das Video. Das war der Hund. Sein Hund. Sein Timber, der da auf einem Skateboard entlangrollte. Unter einer Autobahnbrücke. Olsen war auf dem richtigen Weg. Er setzte das Foto in eine Suchfunktion und fand schnell das Ergebnis. Der Ort war nicht weit von der Gärtnerei. Er schaute auf das Datum, an dem das Video eingestellt worden war. Vor einem Jahr, am 25. September. Es war ein Mädchen, das Timber auf dem Video die Befehle erteilte, die er gerne ausführte. Olsen konnte sich an das Mädchen nicht erinnern. Aber ihm war schnell klar, dass der Filmer an diesem Mädchen mindestens so interessiert war wie an den Tricks von Timber. Er hielt den Fokus immer einen Tick zu lang auf dem Gesicht des Mädchens. Dann sah Olsen für einen Moment Linus. Am Schluss der Aufnahmen filmte er sich selbst und hielt den Daumen hoch.
Olsen klickte den
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