Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
aufzubrechen.
Judith schaute dem Wagen hinterher, bis er verschwunden war. Erst jetzt, als sie diese seltsame Begegnung rekapitulierte, kam ihr in den Sinn, dass Linus etwas zugestoßen sein könnte. Dieser Killer war ihm auf den Fersen. Hatte er Linus erwischt? Hatte sich Linus deshalb nicht mehr gemeldet? Judith spürte, wie ihr Herz zum Hals schlug.
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„Als hätte ’n Megasaurier ’n Ei gelegt“, lachte Linus, als er zum ersten Mal vor der Bibliothek der Freien Universität stand. Sie hatten die letzten Nächte im Wagen in der Tiefgarage verbracht. Jeder wusste, dass das nicht ewig so weitergehen konnte. Irgendwann würde man sie entdecken. Es war Simon, der davor warnte. Aber auch er wusste keine Alternative.
„Zum Spaß“, wie Linus sagte, hatte er am Morgen die Karte, die er bei der Einfahrt in die Garage gezogen hatte, in den Kassenautomaten gesteckt. 85 Euro hätte er inzwischen zahlen müssen. Ab da war es kein Spaß mehr. „Wie kommen wir hier je wieder raus?“
Die letzten Tage hatte sie von billigen Chips und billiger Cola gelebt. Inzwischen hatten sie nur noch drei Euro dreiundsiebzig. Sie hatten Hunger, stanken und Linus hatte inzwischen auch keinen Internetzugang mehr. Klar, dass der besorgte Rob auf diese Weise sein Nachhausekommen beschleunigen wollte. Linus aber war gerade auf dem Weg zu einem genialen Plan, um Marie zu befreien. Doch dazu brauchte er einen Computer. So landeten sie in der Uni-Bibliothek. Hier sichtete Linus Untergrundpläne der Stadt. Und Edda arbeitete ihm zu. Die beiden verstanden sich inzwischen fast blind. Simon beobachtete, wie Linus stumm die Hand ausstreckte und Edda ihm die Unterlagen oder einen Stift hineinlegte, ohne dass sie ein Wort gewechselt hätten.
Edda fiel diese Vertrautheit mit Linus erst auf, als sie aufschaute und in die Augen von Simon blickte. Er schien ihren Blick gar nicht zu registrieren. Wie traurig sie das machte. Dann merkte sie, dass er gar nicht sie anschaute, sondern ihre Hände, die Linus etwas reichten. Unwillkürlich hielt sie sie still. Simon weckte das aus seinen Gedanken, er schaute sie an. Ihm wurde klar, dass sie ihn beobachtet hatte. Sie hatte ihn durchschaut, war der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss. Er wendete sich ab. Er musste raus hier. Weg.
Linus hatte nichts gemerkt.
„Jetzt kommen wir der Sache schon erheblich näher“, sagte er konzentriert und bat Edda um die Pläne der Abwasserleitungen von Spandau. Als Edda nicht gleich reagierte, sah er auf und sah gerade noch, wie Simon aus der Bibliothek verschwand. „Was hat er?“
„Keine Ahnung“, log Edda und gab Linus die Pläne.
Draußen in der kalten Luft des frühen Herbstes musste Simon erst einmal durchatmen. Was hatte er hier eigentlich noch verloren? Natürlich tat es ihm weh, Linus und Edda so vertraut zu sehen. Und doch, seine Hoffnung blieb. Er spürte sie, er wollte sie aber nicht denken. Nicht aussprechen. Weil er glaubte, sie damit zu zerstören. Wenigstens die Hoffnung, dass er Edda ebenso nahekommen könnte wie Linus, diese Hoffnung wollte er nicht aufgeben.
„Idiotisch“, dachte Simon. Was hatte er denn zu bieten? Er betrachtete sich in einer der Scheiben des Gebäudes, sah seine dürre Gestalt, und nachdem er die Mütze abgenommen hatte, die er seit jener Nacht mit Bobo ständig trug, den bescheuerten Schnitt quer über seinen Kopf. Die Stoppeln wuchsen schon nach, aber eigentlich hätte er die anderen Haare jetzt auch auf die gleiche Länge kürzen müssen. Das aber hätte die gesamte Tätowierung wieder offengelegt.
Es war das erste Mal seit der Begegnung mit Geister-Bob, dass Simon sich ernsthafte Gedanken über diese Tätowierung machte. Er hatte alles verdrängt. Die Fragen, die ihn nun verfolgten wie lästige Fliegen. Woher wusste Geister-Bob, dass die Tätowierung eine Bedeutung hatte? Nein, das war die falsche Frage. Sie hatten ja für Geld gearbeitet. Zehntausend für jeden. Es musste also jemanden geben, der von der Formel auf seinem Kopf wusste und der das Geld und die Kontakte zur Unterwelt hatte, um sich das geistige Eigentum seines Vaters anzueignen. GENE-SYS . Sie waren doch überall, sie hatten von der Schaffung einer neuen Welt geredet. Sollte Freie Energie nicht genau dazugehören? Wenn also GENE-SYS davon wusste, dann musste es in der Umgebung seines Vaters einen Informanten geben. Auf einmal war Simon klar, warum er es bisher vermieden hatte, sich ernsthafte Gedanken zu machen. Weil er ahnte, dass es zu
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