Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
einem weiteren „Schlachtfeld“ führen würde, einem weiteren Kampf, der ihn überforderte. Der ihn zwang, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn er das nicht wollte.
Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste mit seinem Vater reden. Er musste mehr über das erfahren, was er für immer und ewig auf dem Kopf trug. Außerdem musste Simon seinen Vater warnen; vor dem Verräter in seinem Umfeld. Ohne Edda und Linus Bescheid zu sagen, machte sich Simon auf den Weg.
Als er an der Pforte der JVA Charlottenburg auftauchte, nannte er den Namen seines Vaters und bat um einen Besuchstermin. Der Beamte schaute ihn nur blöde an. Was war das für eine Idee?
„Ist keine Talk-Show hier, Kleiner!“ Der Mann hinter der Scheibe berief sich auf Recht und Ordnung. Besuche mussten angekündigt werden. Vier Wochen im Voraus. Simon wusste das, aber er musste seinen Vater dringend sprechen. Es ginge um einen Trauerfall in der Familie. Simon hatte sich das in der S 42, auf der Fahrt hierher, überlegt. Er hatte gehofft, dass eine emotionale Geschichte die Türen öffnen könnte, deshalb redete er einfach weiter, als der Mann hinter der Scheibe sich schon abwenden wollte.
„Mein Bruder ist gestorben“, sagte er. „Er ist ertrunken. Bitte. Ich möchte mit meinen Vater reden. Das müssen Sie doch verstehen.“
Der Mann hinter der Scheibe schaute den Jungen hinter dem Glas an. Er sah seine Traurigkeit. Aber das war nichts Besonderes. Fast jeder, der hier an ihm vorbeiging, war von Trauer gezeichnet. Fast jeder hatte immer wieder irgendwelche Sonderwünsche. Der Mann hinter der Scheibe hatte in den Jahren seiner Arbeit gelernt, sich hinter Vorschriften und Formularen zu verstecken. Nur so konnte er unbeschwert um 17 Uhr wieder zu seiner Frau und seinen Kinder nach Hause zurückkehren. Er schob Simon ein Formular durch den schmalen Schlitz zu.
„Sonderantrag“, sagte er. „Wird aber auch mindestens 24 Stunden dauern.“
„Schiebs dir in den Arsch!“, fluchte Simon. Die Ohnmacht, die er im Angesicht der Staatsgewalt empfand, erfüllte ihn mit unbändiger Wut. Er wollte schreien, dachte an die Waffe in seiner Tasche, schlug dann aber doch nur mit der flachen Hand gegen das Glas und ging davon. Der Mann hinter der Scheibe war aufgesprungen. Es war immer dasselbe. Keinen Respekt hatten diese Kerle. Wie der Vater, so der Sohn. Es war schon alles richtig, so wie es war. Es gab Böses in der Welt und das musste weggesperrt werden.
Simon hockte sich auf die Bank vor der JVA und überlegte. Er kramte die American Spirit aus der Tasche, die jemand samt Feuerzeug in der S-Bahn liegengelassen hatte, und zündete sich eine Zigarette an. Sollte er wieder verschwinden? Er schaute zu dem Backsteinbau auf. Wie war er damals in das Gebäude gelangt, in dem sein Vater einsaß? Von der Wäscherei über den Hof. Dann war er zwei Stockwerke nach oben gegangen und den Gang hinunter. Auf der linken Seite lag die Zelle des Vaters. Das bedeutete, dass der Vater von der Zelle aus auf den Zaun der Anlage schaute. Simon stand auf und eilte auf die andere Seite der JVA. Dass eine der Überwachungskameras ihn ins Visier genommen hatte und ihm nachschwenkte, bemerkte Simon nicht.
Im Gebäude hatte der Mann hinter der Scheibe mit gespieltem Amüsement einem Kollegen von dem Jungen berichtet. Er hatte nach draußen gezeigt, wo Simon saß. Und der Kollege erkannte den Jungen wieder, er hatte Simon vor ein paar Wochen bewusstlos im Hof gefunden. Jetzt steuerte er die schwenkbare Kamera hinter Simon her. Auf seinem Monitor sah er, wie der Junge um die Gebäudeecke verschwand. Kurz darauf tauchte er wieder auf. Auf dem Monitor, der das Bild der Rückseite des Gefängnisses zeigte.
Simon schaute die breite, rote Wand hinauf. Und jetzt? Er dachte an Linus. Linus hätte sicher einen Plan gehabt. Er hätte irgendetwas aus seinen Taschen hervorgezaubert. Einen fernlenkbaren Hubschrauber, einen Zeppelin oder eine trainierte Brieftaube. Simon ärgerte sich, dass er so hilflos war. Ohne eigene Ideen. Was hatte er erwartet? Dass sein Vater am Fenster stehen und winken würde?
„Vater!“, rief er plötzlich. Es war kein richtiges Rufen. Es war, als riefe etwas in ihm nach seinem Vater. Erst leise, dann aus Leibeskräften. „Vater!“ Nichts tat sich. Er schrie noch einmal. Noch einmal. Ein Junge radelte vorbei und glotzte ihn blöde an. Simon kam sich dämlich vor. Als wäre er ein kleines Kind, das nicht ohne seinen Papa auskommt. War er ja, all die letzten
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