ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
starrte Marie aus glasigen, aber lachenden Augen an.
Sie lächelte, doch er lächelte nicht zurück.
„Geht nichts über Familie. Ich hab ’nen kleinen Enkel. Er heißt Bobo. Aber er lebt bei seiner Mutter in Berlin. Der Vater ist ein Tunichtgut ... so wie Jimmy hier!“
Er lachte und schlurfte zu einem Schrank und holte einen Umschlag heraus, den er vor Jimmy und Marie auf den Tisch legte. Jeremias nickte Marie zu und mit fragendem Blick zog sie zwei kleine Büchlein heraus. Es waren Schweizer Pässe. Sie schlug einen davon auf. Marie Wilding stand darin. Geborene Füssli. Darüber war ein Passbild von ihr, das sie vor einem Jahr gemacht hatte.
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Marie, Jimmy und Jeremias gingen über das im Mondschein glänzende Kopfsteinpflaster zu den Landungsbrücken nach St. Pauli. Jeremias trug eine alte Hose, einen Bowlerhut und ein altes Jackett über dem Unterhemd. Die ganze Zeit unterhielt der Tätowierer sie mit Geschichten aus seinem Leben. 1935 während der großen Depression war er aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrt. Ein verfluchter Schritt, über den er nicht hinwegkam. Aber wie hätte er schließlich wissen sollen, dass die Strauchdiebe es einmal so weit bringen würden? Außerdem hatte er von 33 bis 35 im Knast gesessen; weshalb, das sagte er nicht.
„Da liegt der alte Seelenverkäufer“, sagte Jeremias und zeigte mit dem Stumpen seiner Zigarre auf einen alten Frachter, der am Ende des Kais im Wasser dümpelte.
Erschrocken erkannte Marie, wie zerstoßen der alte Pott war, als Jeremias breitbeinig über die federnde Gangway an Bord ging, als habe er nie etwas anderes getan.
„Ahoi, Maat!“, rief Jeremias laut, woraufhin ein dunkelhäutiger Mann sein mürrisches Gesicht an Deck zeigte. Eine Narbe verlief über seine Stirn und endete bei seinen Augenbrauen. Er schien auf den Besuch gewartet zu haben, doch er sprach kein Wort Deutsch. Jeremias palaverte in einer fremden Sprache mit ihm, und schließlich führte er Marie und Jimmy unter Deck in einen Raum, der hinter dem Frachtraum lag.
„Der Kasten hat ja gar keine Ladung“, sagte Jimmy, als sie vor einer Stahltür standen, die in den hinteren Teil des Schiffes führte. Jeremias übersetzte, und der Dunkelhäutige erklärte, dass sie leer zurückfahren würden.
„Nach New York?“
Jeremias räusperte sich und schaute Jimmy und Marie schuldbewusst an. „Also, das Schiff hier fährt nicht direkt nach New York.“
Der Dunkelhäutige nickte, als verstände er mit einem Mal, was gesagt wurde.
„Wohin denn? Ich habe für New York bezahlt!“
Er machte einen Schritt auf Jeremias zu, der zurückwich.
„Kein Schiff fährt mehr nach New York“, sagte Jeremias entschieden. „Ihr müsst erst nach Casablanca.“
„Aber Casablanca liegt in Afrika“, sagte Marie.
Wieder nickte der Dunkelhäutige. „Africa!“
Er lächelte und öffnete die Tür zu dem kleinen Raum und zeigte Marie und Jimmy ihre Kajüte. Ein einziges Bullauge blickte hinaus auf das Wasser. Ein kleiner Schrank und eine Matratze, groß genug für zwei. Das war es.
Jimmy lachte. „Perfekt!“
„In Casablanca wartet ein Schiff auf euch. Es legt in genau drei Wochen ab und fährt direkt nach New York.“
Jeremias zog einen Brief aus der Innentasche und gab ihn Jimmy. „Gib das dem Kapitän.“
Der Dunkelhäutige hielt seine Hand auf und mit einer Bewegung seines Kopfes bedeutete Jeremias Jimmy zu zahlen. Als die Tür sich krächzend geschlossen hatte und Jeremias gegangen war, blickte Marie sich um.
„Wie lange müssen wir hier drin bleiben?“
„Fünf Tage. Nur ...“
„Ich muss meinem Vater schreiben. Ich muss ihm sagen, dass wir nicht wiederkommen.“
Jimmy nickte. „Ich gehe noch mal in die Stadt, um meinen Freunden Auf Wiedersehen zu sagen. Sie treffen sich heute Abend nicht weit vom Hafen.“
» Die Kleine Weltlaterne « war eine Kneipe am Rande der Reeperbahn, dem Rotlichtviertel, in dem es immer noch einige unentdeckte Ecken und Nischen gab, die sich der Gleichschaltung durch die Nazis entzogen hatten. Vor dem Lokal standen zwei „Wachposten“, die Jimmy und Marie passieren ließen, nachdem er sich durch seine Klarinette als Musiker ausgewiesen hatte. Im Inneren der Kneipe war eine Gruppe von vielleicht zehn Swing-Boys und Swing-Katzen zwischen sechzehn und zweiundzwanig. Ihre Mode war auffällig und improvisiert, sie trugen längere Haare, Glencheck-Anzüge, weiße Schals und sogenannte Creepers – Schuhe mit dicken Gummisohlen, die einen
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