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ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)

ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)

Titel: ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jeltsch
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Augen kaum: Vor ihnen waren etwa hundert Swing-Kids, die ausgelassen tanzten oder sich am Rand des Saals aufhielten und eine Band anfeuerten, die den » Tiger-Rag « spielte.
    Marie sah, wie Jimmys Augen zu leuchten begannen, doch sie selbst überkam plötzlich ein schlechtes Gefühl. Sie tippte auf die Uhr.
    Jimmy winkte ab. „Einen Tanz!“
    Er stellte seinen Klarinettenkoffer ab und zog Marie auf die Tanzfläche und begann, mit ihr einen ausgelassenen Jitterbug zu tanzen. Als die Band den Song beendet hatte, nahm Jimmy Marie mit auf die Bühne und stellte sie den Musikern vor.
    „Marie würde gern was singen“, sagte Jimmy laut. Sie wurde bleich und dann rot. Dann wieder bleich. Dann wütend.
    „Ich, nein ... ich ...!“
    „Genau du!“
    „Welches Lied?“
    Der Gitarrist stimmte seine Gitarre nach.
    „Und jetzt die schöne Marie ...“, kündigte der Sänger an.
    Lautes Johlen.
    „... und die hässlichen » Hamburg-Harlem-Cats « mit Jimmy Piper!“
    Gelächter. Jimmy packte seine Klarinette aus und setzte das Mundstück auf. Noch einmal erkundigte sich die Band nach dem Lied, das Marie singen wollte.
    „ » Bei mir biste scheen! « “
    Marie war kein anderes Lied eingefallen als der Hit der » Andrews Sisters « . Ein Junge aus der Band reichte ihr ein Glas und Marie nahm einen Schluck. Der Schlagzeuger hinter seinen Trommeln zählte den Takt an und Marie ... verpasste ihren Einsatz. In der lautstarken Begeisterung über das Erkennen des Liedes fiel es aber niemandem auf und bei der nächsten Runde stieg Marie ein. Ihre Stimme wurde laut und fester und Marie signalisierte der Band, ein bisschen leiser zu spielen. Nach dem Vers nahm Jimmy die Klarinette an die Lippen und spielte eine Tonfolge, die er noch nie gespielt hatte. Er transponierte die Töne des Songs in eine Tonart, die er bei Bernikoff gehört hatte, und Marie folgte ohne Worte seinen Tönen und ergänzte sie nur mit Lauten. Die Stimmung im Saal steigerte sich einem Höhepunkt entgegen und wurde getragen von der Sphärenmusik, die Jimmys Klarinette und Maries Gesang in den Saal und die Welt entließen. Die Tänzer im Saal flippten aus – begeistert über die neue Version des Liedes, das sie alles vergessen ließ, was ihren Alltag beschwerte.
    Als Ehlers und seine Leute den Ballsaal betraten und die ausgelassene Truppe bemerkten, waren sie sprachlos. So viel Unverschämtheit und loses Treiben hatten sie sich nicht einmal träumen lassen – vor allem, weil sich keiner der Jugendlichen von der Anwesenheit der Nazis beeindrucken ließ. Ungerührt tanzten, schmusten und küssten sich die Anwesenden weiter – als hätte es Adolf Hitler und seine Schergen nie gegeben.
    Marie stand mit geschlossenen Augen auf der Bühne. Sie wusste, dass es ihre Stimme war, die die Menschen im Publikum zu diesem Tanz auf dem Vulkan erhob – und die Töne aus Jimmys Klarinette, die er mit ihrem Vater entwickelt hatte. Zusammen waren sie unschlagbar. „Come and play with me. For ever and for ever.“ Längst war der Song nicht mehr zu erkennen, und die Mitglieder der Band folgten Marie und Jimmy, während die Nazis nicht wussten, was sie tun sollten. Niemand beachtete sie, niemand folgte ihren hilflos erteilten Anweisungen. Für die Dauer eines Lieds war das Dritte Reich besiegt. Und für die Dauer dieses Lieds wusste Marie, dass sie alles tun konnte, dass alles möglich war und dass es Hoffnung gab. Sie würde nicht nach Amerika gehen. Sie würde hier in Deutschland bleiben und mit denen mitkämpfen, die hiergeblieben waren!
    Die Kids tanzten den Lindy Hop und den Jitterbug, die Mädchen mit wirbelnden Röcken, die Jungen mit ihren langen Mähnen, die wild geschüttelt wurden.
    Marie und Jimmy standen auf der Bühne und improvisierten, als plötzlich alle Lichter angingen. Die Flügeltüren wurden aufgerissen. Gestapo und Hilfspolizei drangen in den Saal. Sie hatten das Gebäude umstellt und die Wachposten der Swings kurzerhand unschädlich gemacht. Nur weil sie auf der Bühne standen, gelang es Marie und Jimmy, hinter den Vorhang zu treten und in einer Klappe zu verschwinden, die über eine Stiege hinunter in den Keller und den Küchentrakt führte. Sie rannten an der verblüfften Küchenmannschaft vorbei, durch eine Kühlkammer und bis zum Lieferanteneingang. Vorsichtig öffneten sie die Tür und spähten hinaus in die Nacht: Die Luft war rein, und im Schatten des Gebäudes gelang es ihnen, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Von dort sahen sie, dass das

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