ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
federnden Gang machten. Ein großer Gegensatz zu dem, was Marie bisher auf den Straßen Hamburgs gesehen hatte. Die Körpersprache der Jugendlichen war lässig – ganz anders als die, der anderen Jugendlichen oder der Hitlerjugend, die die erklärten Feinde der Swing-Katzen waren. Swing-Katzen hörten keine Marschmusik, sie hörten amerikanische und englische Jazzmusik. Bis vor Kurzem hatte es auch gute deutsche Bands gegeben, doch waren sie von der Regierung verboten worden. Das Spielen von Swing wurde streng bestraft, und trotzdem gab es Jugendliche, die sich dagegen aktiv zur Wehr setzen, sich um den Dienst in der Hitlerjugend drückten und um jeden Zentimeter ihrer Haarlänge kämpften. Die Mädchen trugen Bobs, Innenrollen und oft Männerkleidung, was die Nazis auch nicht gerade gern sahen. Sie waren cool und manchmal auch einfach albern. Aus einem Trichtergrammofon, in das man zur Lautstärkeregelung ein Handtuch gesteckt hatte, tönte ein lautes Trompetenstück, und die Kids an den Tischen rauchten und tranken Limonade, teilweise aus Flachmännern verstärkt. Aus dem Hinterzimmer tauchte ein Freund von Jimmy auf. Er trug einen Bowlerhut und zog Jimmy und Marie zu sich in das Separee. Marie wurde begrüßt, und sie war froh, dass Jimmy nichts von ihrer Flucht erzählte.
Sie betrachtete sich die Gruppe der » Easy Boys « , die Jimmy ihr vorgestellt hatte: Robert und seine hübsche Schwester Eva, die aus einer Zigarettenspitze rauchte; Timo, der Freund Evas, und zwei weibliche Swings, die Marie aufmerksam musterten. Als Marie herüberschaute, küssten sie sich demonstrativ. Marie spürte, dass sie rot wurde. Das Gespräch der anderen drehte sich um einen Jungen, der soeben auf Urlaub nach „Florida“, wie die Swings die Haftanstalt Fuhlsbüttel scherzhaft nannten, gegangen war. Sie stritten darüber, ob einem dort wirklich etwas Schreckliches geschähe oder ob dies nur Gerüchte seien, als plötzlich der Aufschrei „Plattnasen!“ ertönte.
Schlagartig zerbrach die gute Stimmung und die kleine Band begann sofort ein deutsches Tanzlied zu spielen. Ein uniformierter Jugendführer mit einer Gruppe von sechs anderen Hitlerjungen, von denen einige schon zwanzig waren, betrat den Vorraum und schaute sich argwöhnisch um. Keiner sprach mehr, und alle starrten gebannt auf ihre brennenden Zigaretten und die Gläser auf dem Tisch, als ließe sich dort die Zukunft ablesen. Als die Nazis vor das Separee traten, in dem Marie und die anderen saßen, schwiegen auch die » Easy Boys « . Marie empfand Beklemmung – was kein Wunder war bei dem Gedanken daran, dass ihr Vater von der Gestapo gesucht wurde und dass sie mit einem gefälschten Pass in der Tasche vor den Häschern saß, die darauf aus waren, Swing-Kids zu fangen und wegen undeutschem Benehmen zu langem Haar und dem Tragen englischer Kleidung zu verhaften.
Die Nazis starrten in jedes der Gesichter, warteten auf eine Reaktion, die es ihnen ermöglicht hätte, zuzugreifen, einen von ihnen aus der Gruppe seiner Freunde zu holen und ihm vor den Augen der anderen den Kopf zu scheren oder ihn zu misshandeln. Doch heute wollte ihnen niemand einen Anlass bieten. Die HJler zogen weiter, doch die Beklemmung blieb. Sie war fester Teil ihres Lebens geworden, dachte Marie. Jimmy hatte recht. Wie viele Jahre konnte ein Mensch das aushalten, ohne sich diesem Druck anzupassen, sich zu deformieren, weil man nicht nur mit einer Lüge lebte, sondern zu einem Teil der Lüge wurde?
„Das war Ehlers“, sagte Robert. „Ein Greifer, der den ganzen Tag unterwegs ist und versucht, Swing-Kids hinter Gitter zu bringen.“
„Die haben sogar Scheren und Haarschneider dabei.“
Jetzt erst bemerkte Marie einen der Jungen, der kreidebleich aus dem Toilettenraum auftauchte. Er hatte fast eine Glatze, die von vielen, mittlerweile verschorften Wunden bedeckt war. An seinem Ohr trug er einen Verband.
„Haben ihm fast das Ohr abgeschnitten“, sagte Robert.
„Diese Schweine.“
„Schweine sind lieb ...“, sagte Marie. Die anderen lachten und allmählich verflog die finstere Stimmung. Bald spielte die Band einen leisen Benny-Goodman-Song und das allgemeine Wohlbefinden steigerte sich zu neuen Höhepunkten.
Robert, Eva und die beiden Mädchen wollten weiterziehen, bevor die Sperrstunde kam und es für Jugendliche schwierig machte, nach Hause zu kommen. Marie und Jimmy hatten beschlossen, zum Schiff zurückzukehren. Sie verließen » Die Laterne « und traten in den lauen Sommerabend.
Weitere Kostenlose Bücher