ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
gebracht, Davids Sachen wegzuwerfen. So war es zu einem seltsamen Mausoleum ohne Toten geworden. Jetzt aber saß da Simons Vater. Zwischen dem Kinderbett und dem Kinderschrank am Kindertisch.
„Hallo, Papa“, sagte Simon.
Sein Vater reagierte nicht. Vornübergebeugt saß er da und kritzelte mit einem harten Bleistift irgendetwas auf ein Papier. Simon kam näher und sah, dass sein Vater auf die Rückseite einer billigen Tapetenrolle schrieb. Es waren Zahlenreihen oder Formeln. Scheinbar ohne zu überlegen schrieb er rastlos vor sich hin. Simon hatte nicht gesehen, dass sein Vater kurz innegehalten hatte, als Simon hereingekommen war. Auch das Lächeln auf seinen Lippen war ihm verborgen geblieben. Umso schneller arbeitete er jetzt weiter an seinen Zahlenreihen.
Simon blickte sich im Zimmer um und entdeckte erst jetzt, dass es keine weiteren Aufzeichnungen gab. Doch wenn sein Vater Tag und Nacht gearbeitet hatte, dann mussten noch sehr viel mehr Unterlagen zu finden sein.
„Tausendeinundvierzig Euro!“
Mumbala hatte sich in der Tür hinter Simon aufgebaut. In der Hand hielt er einen Teller mit zwei belegten Broten. Simon wandte sich zu ihm um.
„Ich will die Geld zurück. Meine Geld“, sagte Mumbala. „Und das Medizin ...“
„Klar. Medizin, mein Arsch.“ Simon ging auf ihn zu. Er hatte keine Angst, deutete zur Küche, wo seine Mutter abspülte. „Soll ich ihr sagen, was das für eine Scheiß-Droge ist, die du da vertickst?“
Mumbala verlor an Haltung. Er war nicht sicher, was Simon wirklich wusste.
„Nix Scheiß-Droge.“
„Ach ja? Sieh dir meinen Vater an, dann weißt du, was deine Drogen anrichten.“
„Er? Er hat doch nicht Scheiß-Droge!“, sagte Mumbala und lachte. Aber Simon blieb so ernst und so selbstsicher, dass Mumbala verstummte.
„Also ...? Soll ich es meiner Mutter sagen?“
„Erpresser bist du.“
„Besser als Dealer.“
„Du hast kein Ahnung. Gar kein Ahnung. Fuck!“
Damit ging Mumbala zu Simons Vater und brachte ihm sein Essen. Da der aber immer weiterschrieb, tat Mumbala, was er scheinbar schon oft gemacht hatte. Für Simon sah es aus, als hätte sich dieses Ritual eingespielt. Mumbala fütterte seinen Vater, und Simon konnte nicht sagen, dass der schwarze Freund seiner Mutter kein Geschick dabei hatte. Er lobte Simons Vater für sein Essen, für sein ausgiebiges Kauen. Und er ermahnte ihn immer wieder, auch runterzuschlucken. Es hatte etwas Friedliches, wie die beiden da beieinandersaßen. Mumbala sah noch einmal her zu Simon und Simon ging aus dem Zimmer.
„Ich weiß nicht, was ich ohne Mumbala machen würde“, sagte seine Mutter, als Simon zu ihr in die Küche kam. „Er ist ein guter Kerl, ein richtig guter Kerl.“ Sie schaute zu Simon auf und er erkannte ihre ehrliche Rührung. Dann zündete sie sich eine Zigarette an.
„Du gibst ihm das Geld zurück, ja?“
„Hat schon“, sagte Mumbala, der mit dem leeren Teller zurückkam. „Reden nicht mehr drüber. Okay?“ Er hielt Simon die Hand hin, und Simon brauchte einen Moment, um zu überlegen. Dann aber sah er den bittenden Blick seiner Mutter und er schlug ein.
„Reden wir nicht mehr drüber.“
Simon lag wach und hörte, wie seine Mutter und Mumbala nebenan redeten. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber es klang vertraut und zärtlich. Simon musste sich eingestehen, dass dieser Mann aus Afrika seiner Mutter guttat, und das freute ihn. Aber alles andere hier in Mannheim war nur verwirrend. Die Rückkehr seines Vaters. Sein Schweigen. Seine Manie, diese Zahlen zu kritzeln. Simon hatte sich ein paar Zahlenfolgen angesehen und nichts verstanden. Dann seine Mutter und Mumbala, die glaubten, dass er gar nicht verschwunden gewesen war. Wie konnten sie vergessen haben, dass sie sich in Berlin im Teufelsberg begegnet waren, dass sie Simon für gene-sys hatten „opfern“ wollen?
gene-sys ...
Die mussten hinter dem großen Vergessen stecken. So wie sie die anderen Jugendlichen mit dumpf machenden Frequenzen beschallt hatten, so hatten sie sicher auch die Möglichkeit, seiner Mutter und Mumbala „Vergessen“ aufzuspielen.
Simon war zurück in der alten Welt, doch er spürte, dass er hier nicht mehr hingehörte. Niemand war hier, mit dem er reden konnte. Niemand, dem er von den letzten Monaten hätte erzählen können. Der ihm hätte sagen können, dass das nur eine verrückte Episode in seinem Leben war und dass er von nun an ein geregeltes Leben leben würde, so wie alle anderen. Schule, Job,
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