Abaton
lächelte.
Edda nickte nur. Sie wusste nicht, was von ihren Erlebnissen sie erzählen sollte. Jedenfalls nicht ihr Abenteuer im Tunnelnetz der Berliner U-Bahn und die anschließende nächtliche Verfolgungsjagd in der S-Bahn. Das alles erschien Edda jetzt wie ein kindlicher Irrtum; außerdem wollte sie ihrer Großmutter keine unnötigen Sorgen machen.
„Ne, es war schön. Echt, richtig schön“, sagte Edda deshalb nur.
Marie nickte, als wüsste sie Bescheid.
„Wie ist denn dein Vortrag angekommen?“
Edda stutzte. Woher wusste ihre Großmutter, dass sie einen Vortrag halten musste?
„Ach, der ... gut! Glaube ich. Ja, gut.“
Edda merkte, dass sie nicht über die Energie verfügte, um eine Version der Ereignisse für die Erwachsenen zu erfinden. Wieso konnte sie die Geschichte nicht einfach so erzählen, wie sie sich abgespielt hatte? Warum musste man immer um die Dinge herumlavieren?
„Aber stressig war’s“, sagte Edda und hatte das Gefühl, als wären diese Worte, die aus ihrem Mund kamen, wie Fremdkörper. Sie gehörten zu einer Sprache, die sie in den letzten Jahren, seit sie aus Indien zurück war, gelernt und übernommen hatte. Von Linda, von Sophie, von den anderen. Nie hatte sie darüber nachgedacht. Warum jetzt? Plötzlich fühlte sie sich sehr müde.
„Ich hab dir Heringstopf gemacht, dazu gibt’s Pellkartoffeln.“
Ihr Lieblingsessen. Edda lächelte.
Marie wusste, dass etwas in ihrer Enkelin arbeitete, aber sie wollte Edda nicht zu etwas bringen, was sie nicht wollte. Oder vielleicht nur unbewusst wollte. „Angst vor“ heißt „Lust auf“; das war ein Prinzip, das Marie bei ihrer eigenen Tochter anzuwenden versucht hatte. Es war falsch gewesen. Wenigstens ein Stück weit wollte sie das jetzt an ihrer Enkelin wiedergutmachen.
Der Regen ließ nach und die dunklen Wolken wurden vom Wind landeinwärts getrieben. Großmutter und Enkelin bogen von der Hauptstraße ab und Edda konnte das kleine, alte, mit Reet gedeckte Haus aus roten Klinkersteinen sehen, das am Ende eines sandigen Weges lag, der von alten Kiefern gesäumt wurde.
Der Strand war etwa einen Kilometer vom Haus entfernt. Weil er seltenen Vögeln und Pflanzen Heimat bot, stand er unter Naturschutz. Hinter dem Schuppen des Hauses lebten schon seit Ewigkeiten zwei Bienenvölker. Den Garten ließ Marie einfach wachsen und rupfte nur ab und zu ein paar Kräuter für die Küche oder um einen Tee aufzugießen, wenn Edda krank war. Schon Eddas Mutter war hier groß geworden und Edda verband nur schöne Erinnerungen mit dem Ort. Hier hatte sie gelebt, bevor sie nach Indien gegangen waren. In jeder freien Minute war sie zum Strand gegangen und hatte bei Ebbe im Watt nach Strandgut gesucht. Nach angeschwemmten Dingen aus fernen Ländern, die irgendwo auf den Weltmeeren von Bord gefallen waren. Sie malte sich aus, dass es Geschenke ihres Vaters seien. Sie hatte ihn nie kennengelernt. Er sei Matrose gewesen, hatte ihre Mutter ihr erzählt. Eine kurze Liebe nur. Mehr hatte Edda nie erfahren. Aber dass es eine Liebe war, hatte ihr immer gefallen und sie hatte es nur allzu gerne geglaubt.
Die Einmachgläser auf dem Küchenfenster füllten sich mit den gesammelten Erinnerungen an den unbekannten Vater. Bei jedem Frühstück, bei jedem Abwasch erinnerten sie die kleine Edda an ihn. So wie der salzige Geruch der nahen See, der sich im ganzen Haus eingenistet hatte. So war der Vater immer bei Edda. Sie konnte sogar mit ihm reden – wenn der Wind günstig stand, wie sie der Großmutter erklärte, und Marie hatte Edda immer darin bestärkt.
„Wenn der Wind sich dreht und du gut hinhörst, dann wirst du seine Antworten verstehen.“ Das hatte Marie der kleinen Edda erklärt. Und so verbrachten sie so manche Stunde auf dem Deich, um dem Wind zu lauschen, während Eddas Mutter wie so oft im abgedunkelten Schlafzimmer lag und an schlimmem Kopfweh litt, das der Westwind immer mit sich zu bringen schien.
Jetzt betrat sie mit ihrer Großmutter das große Wohnzimmer mit dem Kamin. Edda stellte ihren Koffer ab und ging dann auf ihr Zimmer, wo ihr Computer stand. Als Erstes checkte sie ihre Mails und ihren Facebook-
Account.
Keine Nachricht von Marco.
Edda wählte Lindas Nummer und Linda nahm sofort ab.
„Wie geht’s?“
„Okay.“
An Lindas Stimme spürte Edda, dass etwas nicht stimmte.
„Meine Mutter stresst wegen Latein. Aber du kannst gleich vorbeikommen. Sie geht zum Kegeln“, sagte sie leise.
„Ich bin gerade erst
Weitere Kostenlose Bücher