Abaton
lange?“
„Wir haben ... Mein Gott, ein Jahr haben wir dich gesucht.“
„Ein ganzes Jahr.“
Sie weinten vor Freude. Linus konnte das an ihren Stimmen hören. Jetzt war alles gut. Aber als Linus sich umdrehte, waren da keine Gesichter. Was war los? Das waren doch die Stimmen seiner Eltern gewesen. Linus war es unbegreiflich. Er suchte Halt. Ergriff die Hand seines Vaters. Hielt sie fest, obwohl der Vater Linus abschütteln wollte. Als Linus in den Spiegel über der Spüle blickte, erkannte er die Gesichter des Mannes und der Frau. Es waren Simon und Edda ...
„Ey, kleiner Wichser. Das gehört jetzt mir. Logo? Oder logo?“ Linus schreckte aus seiner tiefen Trance und sah in das Gesicht eines Jungen. Er war es, an den sich Linus klammerte. Allmählich begriff Linus, was geschehen war. Der Typ hatte sich neben ihn gesetzt und ihm sein I-Phone aus der Hand gerissen. Der Kumpel des Jungen hielt Linus fest.
„Is’n das für’n Kack?“ Der Junge mit dem Cap des 1. FC Köln starrte auf das Display. Das Foto mit dem Sonnenrad war zu sehen. „Voll eso oder was, du Opfer!“
Linus sah sich um. Er und die beiden Halbstarken waren so gut wie allein in dem Waggon. Irgendwo weiter hinten hockte noch ein alter, in sich zusammengesunkener Mann.
„Hab dich was gefragt, Arschloch!“, sagt der Cap-Träger.
„Er hat dich was gefrahagt, Arschloch“, wiederholte sein Kumpel und stieß Linus mit der flachen Hand gegen die Stirn.
„Ja. Ja, is’ eso. Ja. Aber ... ’n Geheimnis“, sagte Linus.
Die beiden Jungs lachten über ihn.
„Ach ja? Und wie funzt’s, das Geheimnis?“
Linus wollte nach seinem Handy greifen, aber das ließ sein Gegenüber nicht zu.
„Is’ meins, jetz’“, sagte er.
Linus nickte. Die beiden waren älter und stärker als er. Und um einiges blöder. Linus erklärte ihnen kurz, wie sie das Sonnenrad ablaufen lassen konnten.
„Müsst aber die ganze Zeit direkt draufschauen“, erklärte er. „Funktioniert sonst nicht.“
„Un’ was passiert? Explodiert’s dann, oder was?“
„Muffensausen?“, fragte Linus.
Die beiden Typen lachten grölend, dann rückten sie zusammen, starrten auf das kleine Display und ließen die Hypnose-App laufen. Linus beobachtete gespannt, was geschah. Kurz darauf rührten sich die zwei nicht mehr. Wie eingefroren hockten sie da.
Linus wartete, bis die U-Bahn die nächste Station erreicht hatte, dann griff er sein Handy und huschte aus der Tür, kurz bevor sie sich schloss.
Vom Bahnsteig aus schaute er der U-Bahn nach, bis der Wagen mit den beiden Jungen, die noch immer hypnotisiert nebeneinanderhockten, im Tunnel verschwand.
Linus wandte sich ab. Der Fahrtwind rupfte an seinen Haaren. Dann war er allein auf dem nächtlichen Bahnsteig. Allein mit sich. Besser, er hätte sich die Abfolge der Sonnenräder nicht angeschaut, dachte er. Aber die Gewissheit, dass er Teil eines seltsamen Spiels war, dessen Regeln er nicht kannte, dass er mit seinem Handeln Rob, Helga und die Zwillinge in Gefahr gebracht hatte, dass er nicht wusste, wo er in dieser Nacht bleiben sollte ... all das hatte ihn dazu verlockt, sich auf das Sonnenrad einzulassen. Wie auf eine Droge, die ihn aus der ausweglosen Realität entführen sollte. Kein Wunder, dass ihn die Hypnose in eine kitschig heile Welt versetzt hatte. In eine Zeit, als noch alles in Ordnung schien.
Er war es gewesen, der an den schulfreien Tagen das Frühstück gemacht hatte. Ihm waren diese raren Momente eines harmonischen Familienlebens immer wichtig gewesen. Er war da eigentlich nicht anders als Rob.
Linus wünschte sich, die Bilder, die die Hypnose in seinem Kopf hinterlassen hatte, würden verschwinden. Warum hatte er plötzlich die Gesichter von Simon und Edda gesehen? Was hatte das zu bedeuten? Schwachsinn!
Er war zu weit gefahren. Viel zu weit. Linus, zurück in der Realität, stellte jetzt erst fest, dass er mindestens zehn Minuten in Trance gewesen sein musste. Er war fünf Stationen zu weit gefahren. Er stand am Bahnsteig und schaute auf die Gleise. Schmutzige Mäuse huschten zwischen genauso schmutzigen Steinen im Gleisbett hin und her; auf der Suche nach dem Müll, den die Menschen zurückließen. Eine seltsame Parallelwelt. Die nur existieren konnte, weil die Menschen so viel Müll produzierten. Was für ein trauriges Dasein.
Linus wandte sich ab und konnte sich selbst auf dem Monitor sehen, der für die U-Bahn-Fahrer angebracht worden war, um den Bahnsteig besser überblicken zu können. Ein
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