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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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trauriger Junge stand verlassen da. Allein. Ein Junge, dem die Tränen über die Wangen liefen. Der nicht wusste, wie ihm geschah. Der doch sonst nie weinte. Nicht einmal, als er sich mit dem Skateboard überschlagen und sich den Arm und die Hand gebrochen hatte, hatte er geweint. Aber jetzt auf einmal … Diese traurigen grauen Mäuse im Gleis und er auf dem schwarzweißen Monitor, genauso grau. Linus betrachtete diesen Jungen. Den die Trauer in die Knie zwang. Er fühlte sich unendlich verloren ...
    [ 1219 ]
    Als Simon wieder vor dem Wohnblock ankam, war es dunkel. Die Araber lümmelten immer noch vor dem Hauseingang herum. Doch dieses Mal gingen sie Simon nicht aus dem Weg. Ihre Gebärden wirkten bedrohlich. Anscheinend hatten sie instinktiv gespürt, dass er nun in einer anderen Verfassung war. Das war immer so, wenn er von seiner Mutter kam. Als hätte er sich mit ihrer Unsicherheit infiziert. Und diese Typen witterten das.
    „Hey, du schwule Scheiße! I’schab deine Mutter gefickt!“, sagte der Kleinste aus der Gruppe, als Simon vorbeiging.
    Simon blieb stehen. Für einen Moment hatte er das Sonnenrad vor Augen. Es machte ihn ruhig und er eilte nicht wortlos ins Haus wie sonst. Er drehte sich um. „Tatsächlich? Aber warum?“, fragte er.
    Entgeistert starrte der kleine Araber Simon an.
    „Hast du dir mal überlegt, warum? Denk mal drüber nach und wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann sagst du es mir und ich geb dir fünf Euro.“
    Simon spürte, dass der Kleine verzweifelt nach einer schlagfertigen Antwort suchte, und als er weiterging, hörte er, wie die anderen Araber ihren Kumpel auslachten.
    „Ja, warum? Warum hast du sie gefickt, Alter? Der hat DICH gefickt! Du Muschi!“
    Sie brüllten vor Lachen und Simon musste schmunzeln, als er die Tür aufschloss und wieder in die Wohnung trat.
    Mumbala war nicht da.
    Simon begab sich in sein Zimmer, nahm seinen Rucksack und packte ein paar frische Sachen, dabei suchte er nach der grünen Besucherkarte, die sein Vater ihm schon vor längerer Zeit von der Justizanstalt hatte zuschicken lassen. Ein Angebot an den Sohn. Doch Simon wollte damals davon nichts wissen. Er rang so sehr um ein wenig Normalität in seinem Leben. Da passte ein Vater im Knast nicht rein.
    Jetzt war alles anders. Simon wollte zu seinem Vater, doch er konnte die Karte nicht mehr finden. Er erinnerte sich, dass er den Umschlag in die Ecke gefeuert hatte, in die er immer seine schmutzige Wäsche warf. Aber da war keine Schmutzwäsche. Panik. Ohne die Karte würde er seinen Vater nicht besuchen dürfen. Man konnte nicht so mir nichts dir nichts in ein Hochsicherheitsgefängnis hineinspazieren.
    Simon eilte ins Bad. Er riss den Duschvorhang zur Seite und atmete durch. In der Wanne lag noch die schmutzige Wäsche. Er durchwühlte sie und dann, zwischen seinen Jeans, fand er schließlich, wonach er gesucht hatte. Wie praktisch, dass er keine Mutter hatte, die regelmäßig seine Sachen wusch. Er schloss die Tür von innen ab und sah sich im Spiegel an. Er kannte den Jungen mit den langen, glatt geföhnten Locken, die sein Gesicht umrahmten und ihm etwas Verträumtes gaben, nicht mehr. Das war nicht er. Auf jeden Fall nicht mehr der, der er sein wollte.
    Simon zog eine Schere aus der Kulturtasche seiner Mutter und schnitt sich die langen Haare ab, bis sein Schädel nur noch von unregelmäßig abgesäbelten Haarbüscheln bedeckt war. Dann nahm er den elektrischen Rasierer seiner Mutter und schor sich zunächst die linke und dann die rechte Schädelhälfte kahl. Sofort spürte er den kühlen Zug an seinem Kopf, bei jeder Bewegung seiner Arme nahm er einen Windhauch wahr, als hätte er dort Sensoren. Simon fuhr sich mit den Händen über den Kopf, ertastete Beulen und Unebenheiten. Seit seiner Kindheit war kein Licht mehr an den Schädel gekommen. Wie bleich seine Haut unter den Haaren war! An der rechten Schläfe hatte er eine lange Narbe, die von einem Sturz mit dem Rad herrührte, als David ihm einen Stock zwischen die Speichen gehalten hatte und er über den Lenker geflogen war. Wie gern er noch einmal über den Lenker fliegen würde, wenn David davon lebendig werden würde! 16 Stiche. Das war ein Rekord, hatte der Arzt gesagt.
    Simon lächelte.
    Er wirkte jetzt hart.
    Viel härter. Mindestens wie 18.
    Simon zog das Hemd aus und ließ die Muskeln spielen. Betrachtete sich von allen Seiten. Na ja ... Besser, er zog das Hemd wieder an. Und seine dicke Jacke. Die ließ ihn breiter erscheinen.

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