Abbau Ost
Familienangelegenheiten« bewilligt, jetzt konnte auch ein ausgewählter Kreis von
DDR-Bürgern ohne verwandtschaftliche Bindungen in den Westen reisen: |253| Im Oktober 1986 unterzeichneten die Oberbürgermeister von Eisenhüttenstadt und Saarlouis die erste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft.
Diesem Beispiel folgten in den nächsten drei Jahren noch 138 weitere, je zur Hälfte ost- und westdeutsche Städte. Besonders
weit öffnete sich der Grenzzaun für Mitarbeiter und Angehörige der beiden Kirchen. In diesen Kreisen wurden die Besuchsreisebestimmungen
schon immer großzügiger gehandhabt, doch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gab es noch einmal einen spürbaren Schub. Vor
allem eröffneten sich bis dahin nicht da gewesene Möglichkeiten für den Jugendaustausch, was auf die Stimmung in den Kirchen
nicht ohne Auswirkungen blieb. Und schließlich bot ein ostdeutscher Reiseveranstalter sogar Touristenreisen in die Bundesrepublik
an, von denen vor allem verdiente Jungfunktionäre profitierten.
Im Wendejahr war Erich Honecker 77 Jahre alt und hatte in seiner 17-jährigen Regierungszeit nahezu alles erreicht. Sein internationales
Renommee spiegelte sein Abhängigkeitsverhältnis von Moskau nicht annähernd wider. Auf dem diplomatischen Parkett bewegte sich
Honecker ebenso sicher wie der in Westdeutschland regierende Helmut Kohl. Nachdem die deutsch-deutschen Beziehungen durch
den Grundlagenvertrag eine Basis gefunden hatten und die Bundesrepublik ihren Alleinvertretungsanspruch aufgab, konnten 1973
beide deutsche Staaten souverän und gleichberechtigt der UNO beitreten. Bis Ende der 70er Jahre nahm die DDR zu fast allen
Staaten der Welt diplomatische Beziehungen auf. Anfang der 80er Jahre unterhielt die DDR Botschaften, Handels- und Militärmissionen
in nahezu 200 Ländern. Noch 1988 reiste Hermann Axen, im Politbüro zuständig für Internationale Verbindungen, in die Vereinigten
Staaten und führte in Washington Gespräche über einen offiziellen Staatsbesuch.
Ein ganz besonderes Datum war der 40. Jahrestag der DDR 1989. Erich Honecker gab einen Empfang für mehr als 4 000 Gäste. Eine
der größten unter den 70 ausländischen Delegationen war die sowjetische Abordnung mit Michail Gorbatschow. In seiner Festrede
am 6. Oktober im Palast der Republik, dem ersten Tag der Feierlichkeiten, gab Honecker nicht einen Hinweis auf die |254| Flüchtlingsströme und die prekäre Lage im Lande. Erst am Folgetag kam es im Schloss Niederschönhausen zu einem persönlichen
Gespräch, in dem Michail Gorbatschow im Beisein des Politbüros an Erich Honecker jene Worte richtete, die noch heute mit den
Worten zitiert werden: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. »Ich halte es für sehr wichtig«, sagte Gorbatschow, »den
Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.«
Der Festakt an jenem 7. Oktober 1989 klang mit einem Empfang im Palast der Republik aus. Ganz in der Nähe, auf dem Alexanderplatz,
hatten sich mehr als 15 000 Demonstranten versammelt. Allein im Sommer 1989 hatten 120 000 DDR-Bürger einen Ausreiseantrag
gestellt. Und nachdem die ungarische Regierung am 11. September die Grenzöffnung zu Österreich legalisierte, flohen jeden
Tag nicht mehr nur Hunderte, sondern Tausende DDR-Bürger in die Bundesrepublik – bis Ende September bereits 32 500 Menschen.
Egon Krenz und Günter Schabowski redeten auf dem Empfang mit Valentin Falin, in den 70er Jahren Botschafter in Bonn, seitdem
Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU. Ihren Erinnerungen zufolge verständigten sie sich darüber, wie entmutigend die Äußerungen
Erich Honeckers gewesen seien. Die beiden machten gegenüber Valentin Falin Andeutungen, dass es nicht mehr so weitergehen
könne und bald etwas geschehen werde.
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UnbeKrenzte Demokratie
Was dann am 17. Oktober 1989 geschah, war beileibe keine Palastrevolution. Gleich zu Beginn der Politbürositzung stellte Ministerpräsident
Willi Stoph den Antrag, Erich Honecker von seinen Funktionen zu entbinden. Die Rücktrittsforderung erstreckte sich zugleich
auf Honeckers Freund und obersten Wirtschaftsplaner Günter Mittag und auf Achim Herrmann, im Zentralkomitee zuständig für
Agitation und Propaganda. Keines der anwesenden Politbüromitglieder stellte sich hinter Honecker. Der war, Augenzeugenberichten |255| zufolge, »tief getroffen, dass der Vorschlag von Stoph kam«.
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