Abbau Ost
hundert DDR-Bürgern gemeldet. Jetzt ist von der »größten Massenflucht
seit 30 Jahren« die Rede.
Tagesschau, 5. September: Die Bilder zeigen einen DDR-Bürger unmittelbar vor dem Grenzübertritt. Er bekräftigt seine Entschlossenheit
vor laufender Kamera und macht sich auf den Weg. Ein Zwischenschnitt zeigt eine Gruppe von Flüchtlingen beim Grenzübertritt.
Ihre Flucht wirkt wie ein Waldspaziergang. Zum Schluss wird der eingangs interviewte DDR-Bürger auf österreichischer Seite
gezeigt. »Zwei österreichische Grenzsoldaten haben wir gesehen«, sagt der Mann, »aber die waren sehr freundlich. Die haben
mit den Augen gezwinkert, und wir konnten weitergehen.«
Tagesschau, 10. September: Ein Originalmitschnitt aus dem ungarischen Fernsehen zeigt die offizielle Öffnung der ungarischen
Grenze. DDR-Bürger können fortan ohne jedes Risiko die Grenze zu Österreich überschreiten. Der ARD-Korrespondent spricht von
einer »sensationellen Entscheidung in Budapest«. Es wird angedeutet, die Grenze könnte möglicherweise schon bald wieder geschlossen
werden.
Tagesschau, 11. September: Nach der Grenzöffnung fahren die Botschaftsflüchtlinge in Budapest in Bussen oder eigenen Autos
über die Grenze. Mehrere Kamerateams zeigen strahlende DDR-Bürger, die überaus freundlich von Bundesbürgern empfangen werden.
Es wird gezeigt, dass sich an den Schwarzen Brettern in den Aufnahmelagern Stellenangebote häufen. Im selben Bericht |264| wird deutlich gemacht, dass Nachzügler »noch« eine Chance hätten. Es wird angedeutet, dass die DDR künftig Reisen nach Ungarn
verbieten könnte.
Nachdem die ostdeutschen Behörden Visa nur noch an loyale Bürger vergeben und die Kontrollen an der tschechisch-ungarischen
Grenze verschärft werden, konzentriert sich die Berichterstattung fortan auf die westdeutsche Botschaft in Prag. Hier finden
die westdeutschen Kamerateams ideale Arbeitsbedingungen. Die Flüchtlinge können sich nur in dem wenige hundert Quadratmeter
großen Botschaftsgelände bewegen, zu dem die Kameraleute ungehindert Zugang haben. Ihnen gelingen sehr eindrückliche Filmaufnahmen.
Auf einer Rasenfläche, umgeben von einem hohen Gitterzaun, warten die Flüchtlinge seit Tagen auf ihre Ausreise. Die Notlage
der Betroffenen wird jetzt für jeden Zuschauer erlebbar. Am 1. Oktober zeigt die ›Tagesschau‹, noch vor der Begrüßung durch
den Nachrichtensprecher, jene Bilder aus der Prager Botschaft, als Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon verkündet:
»Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …« Die letzten Worte gehen im Jubelgeschrei unter,
jeder weiß, wie der Satz endet. Bei ihrer Ankunft in Westdeutschland werden die Flüchtlinge vom Applaus Tausender Bundesbürger
begrüßt. Im Fernsehen sind Transparente zu lesen wie: »Wir kamen aus Ungarn, ihr aus Prag, die Zone ist bald ein leerer Sarg.«
Die Angekommenen sind außer sich vor Freude. »Endlich Freiheit, wunderbar! Es wurde viel für uns getan. Wir freuen uns sehr,
dass wir hier sind.«
Die Berichterstattung aus der Prager Botschaft und über die Ankunft der Flüchtlinge in Westdeutschland bildete einen Höhepunkt,
die Intensität der Bilder ließ sich nicht mehr steigern. Fortan konzentrierte sich die Berichterstattung auf die Opposition
in der DDR. Im Laufe der Jahre hatten sich persönliche Kontakte zwischen westdeutschen Korrespondenten und ostdeutschen Bürgerrechtlern
herausgebildet. »Oppositionelle«, schreibt Lars Brücher, »spielten den Journalisten systemkritische Flugblätter zu, informierten
sie regelmäßig über ihre Aktionen, standen für Interviews zur Verfügung und ließen sie sogar zu Teilnehmern |265| an systemkritischen Veranstaltungen werden.« Die westdeutschen Medien »präsentierten die oftmals sehr kleinen Gruppen als
potenzielle Retter der DDR, ohne dass jene zu diesem Zeitpunkt eine annähernd ausreichende organisatorische Basis gehabt hätten,
diesem Anspruch gerecht zu werden«. Die Staatssicherheit, alarmiert durch die Berichterstattung, gab zur Rolle der westdeutschen
Journalisten eine Studie in Auftrag. »In der DDR akkreditierte Korrespondenten und Mitarbeiter diplomatischer Vertretungen«,
heißt es in der vom Juni 1989 stammenden Stasiuntersuchung, »inspirieren feindliche, oppositionelle Kräfte und personelle
Zusammenschlüsse zu antisozialistischen Aktivitäten, gewähren ihnen fortlaufend Unterstützung
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