Abbau Ost
Rückkehr
gab sein Sohn. Falls er mit seiner Frau und der jüngeren Tochter noch länger in Kairo bleiben wollte, hätte er den Jungen
in der DDR in ein Schulinternat geben müssen. Das aber kam für die Familie nicht infrage. Seinen neuen Einsatzort fand Lothar
Bley in Wittenberg, in den Wittenberger Mühlenwerken, wo genau jene Anlagen zur Verarbeitung von Reis und Getreide hergestellt
wurden, mit denen er über viele Jahre im Ausland Handel getrieben hatte. Auch hier war er wieder für den Verkauf zuständig
und reiste häufig ins Ausland, neben den Geschäftsbeziehungen im Nahen Osten übernahm er nun auch den Markt in Südamerika.
|100| Die politische Wende erlebte Lothar Bley, wie er sagt, »in der 3. Leitungsebene«. Der plötzliche Wandel vom Volkseigenen Betrieb
zum Treuhandunternehmen, fehlendes Mitspracherecht und die üblichen Hinweise auf den rettenden Investor verhinderten eigene
Initiativen und dringend notwendige Schritte zur Anpassung an die neuen Verhältnisse. Die Treuhandanstalt entließ die alte
Geschäftsführung und besetzte die Chefetage mit eigenen Leuten. Im Jahre 1991 gab es zwei Privatisierungsversuche, die beide
scheiterten. »Bei der Privatisierung«, erinnert sich Lothar Bley, »ging es immer nur um die Immobilie, aber nie um die Weiterführung
des Unternehmens.« Die exponierte Lage am Stadtrand in Sichtweite der Schlosskirche, an deren Tor Martin Luther im Jahre 1517
seine 95 Thesen anschlug, weckte die Begehrlichkeiten von Immobilienmaklern. Die Betriebsgebäude sollten abgerissen werden
und auf dem Gelände ein Einkaufsmarkt entstehen. Doch die Stadtverordneten versagten ihre Zustimmung. Das Traditionsunternehmen,
bereits 1887 als »Mühlenbauanstalt Anton Wetzig« gegründet, gehörte zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Anfangs konzentrierte
sich die Firma vor allem auf Maschinen zur Verarbeitung von Roggen und Weizen. Das erste Auslandsgeschäft, der Bau einer Graupenmühle
in Polen, datiert aus dem Jahr 1899. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem durch den Bau eigener Wasserturbinen zum Antrieb
der Getreidemühlen, nahm das Maschinenbauunternehmen einen ungeahnten Aufschwung. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, der Verstaatlichung
und planwirtschaftlichem Zentralismus konnten die Wittenberger Mühlenwerke ihre Marktstellung ausbauen. Zu DDR-Zeiten hatte
das Unternehmen einen Weltmarktanteil von 13 Prozent und war mit seinen Getreidemühlen und Schälmaschinen auf allen Kontinenten
präsent. Mühlen aus Wittenberg wurden in 56 Länder geliefert, der Exportanteil lag bei 65 Prozent. Selbst als Treuhandunternehmen
machten die Mühlenwerke noch einen Jahresumsatz von 13 Millionen D-Mark.
Dennoch winkten die Verantwortlichen in der Treuhandniederlassung Halle, genervt von zwei gescheiterten Privatisierungsversuchen,
endgültig ab. Über den Mühlenwerken lag das Verdikt |101| »nicht sanierungsfähig«, und damit war das Schicksal des Unternehmens besiegelt. Der gewohnte Abwicklungsprozess wurde in
Gang gesetzt. »Wir, die unterzeichnenden alleinigen Gesellschafter der Maschinen- und Mühlenbau Wittenberg GmbH«, schrieb
die Treuhandanstalt, »halten hiermit unter Verzicht auf alle gesetzlichen und gesellschaftsvertraglichen Fristen und Ankündigungen
eine außerordentliche Gesellschafterversammlung ab und beschließen einstimmig die Auflösung der Gesellschaft.« Fortan führte
die Maschinen- und Mühlenbau GmbH den Status i. L., in Liquidation. Verfasst hatte die hochtrabenden Worte der später zu fünfeinhalb
Jahren Gefängnis verurteilte Rechtsanwalt Sven Andreas, damals in der Treuhandfiliale Halle zuständig für Privatisierung,
Reprivatisierung und Liquidation.
Ottmar Hermann, ein Rechtsanwalt aus Frankfurt am Main, übernahm das Abwicklungsverfahren. Er fuhr nach Wittenberg, sah sich
alles an und fragte Lothar Bley, ob er nicht ein paar Abwicklungsaufgaben übernehmen könne, unter anderem müsse sich jemand
um die begonnenen und noch nicht abgeschlossenen Aufträge und um die Garantieverpflichtungen kümmern. Lothar Bley hörte die
Botschaft und fragte sich: »Das kann doch wohl nicht alles gewesen sein?« Niemand konnte sich vorstellen, dass ein international
erfolgreiches Unternehmen, das noch dazu über einzigartige Technologien verfügte, einfach ausgelöscht werden sollte und jene
Fläche am Stadtrand von Wittenberg, wo seit über hundert Jahren Maschinen und Anlagen zur Verarbeitung von Getreide
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