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Abbau Ost

Titel: Abbau Ost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Baale
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Förderung des Tourismus wollte der eingefleischte Junggeselle
     »Wittstocker Heiratsmärkte« und »Wittstocker Kutschparaden« veranstalten. Außerdem organisierte er Seminare mit dem Titel
     »Wir üben die soziale Marktwirtschaft«. Und doch waren es nicht derartige Initiativen, die dazu führten, dass man sich in
     der Personalabteilung der Berliner Treuhandzentrale noch einmal des kauzigen Bewerbers aus Bochum erinnerte. Die geringe Auswahl
     an geeigneten Persönlichkeiten und die treuhandinterne Übereinkunft, dass man für das Leitungspersonal keine früheren DDR-Bürger
     rekrutieren wollte, bescherten dem nordrhein-westfälischen Maschinenbauingenieur einen Anstellungsvertrag.
    Am 5. Oktober 1990, zwei Tage nach dem offiziellen Ende der DDR, reiste Karl-Heinz Rüsberg in die ostdeutsche Provinz. Er
     lenkte seinen Wagen auf den Hinterhof der Karl-Marx-Straße 18, einer klassizistischen Villa im Zentrum Schwerins, stieg die
     Treppe hinauf in den zweiten Stock und stellte sich den 24 Mitarbeitern als neuer Chef vor. Von Stund an entwickelte der Behördendirektor
     eine Geschäftigkeit, die weit über die Aufgaben des Treuhänders hinausging, denn Karl-Heinz Rüsberg hatte eine Mission. »Die
     Überleitung der alten DDR-Kommandowirtschaft in den Markt«, verkündete er, »ist eine nationale Pflicht, der ich mich aus Überzeugung
     stelle.«
    Binnen kurzer Zeit erweiterte der Niederlassungsleiter (Jahresgehalt 300 000 D-Mark) den Personalbestand auf 120 Mitarbeiter,
     darunter zwei persönliche Referenten und zwei Chauffeure, von denen einer schon bald, nach einem Unfall mit Rüsbergs Dienst-Mercedes,
     den Dienst quittierte. Der leidenschaftliche Jäger ließ sich einen Eichenschreibtisch in sein Arbeitszimmer rücken, hängte
     seine Lieblingsbilder, Radierungen von röhrenden Hirschen, an die Wände, und führte fortan das Kommando über mehrere hundert
     ehemals volkseigene Betriebe in den Grenzen des früheren Bezirkes Schwerin. Im Viertelstundentakt fertigte er die Geschäftsführer
     der Treuhandunternehmen ab, klärte Eigentumsfragen mit Mitarbeitern städtischer Behörden, maßregelte Bürgermeister und Landräte.
     Aus dem Westen kommenden Besuchern |109| und Investoren, entsetzt über den rüden Umgangston und die zelebrierte Unhöflichkeit gegenüber den Ostdeutschen, sagte er:
     »Ich weiß, was den Menschen hier im Mecklenburgischen fehlt. Die brauchen nach vier Jahrzehnten Sozialismus eine klare Orientierung.«
    Geradezu legendär wurde ein Geständnis, das Rüsberg Vertretern der Regionalpresse machte. »Ich habe überhaupt keine Hemmungen«,
     sagte er den Journalisten, die sich, ehe sie den Satz notierten, lieber noch einmal vergewisserten, ob es sich möglicherweise
     um einen Ausrutscher handelte, den es zu relativieren galt und der so nicht veröffentlicht werden konnte. Aber der Mann relativierte
     nichts, und da er es offenbar genauso meinte, wie er es gesagt hatte, lasen das Zitat am nächsten Tag die 60 000 Beschäftigten
     in den Treuhandbetrieben, die den Entscheidungen dieses hemmungslosen Mannes ausgeliefert waren. Eine Unterschrift des Treuhanddirektors
     konnte Tausende Arbeitsplätze vernichten. War das, fragten sich die verunsicherten Ostdeutschen, möglicherweise das Geheimnis
     der sozialen Marktwirtschaft, eigenwillige Persönlichkeiten, die hemmungslos ihren Stil pflegten und sich nötigenfalls über
     jegliche Konventionen hinwegsetzten?
    Unvergessen blieben Rüsbergs Auftritte bei Unternehmensbesuchen. »Die Braut möge sich schmücken!«, lautete die immergleiche
     Botschaft des alternden Junggesellen. Das Werksgelände sollte aufgeräumt werden, die Beschäftigten sollten sich Farbe und
     Pinsel nehmen, Werkhallen und Eingangsbereich streichen, und vor allem galt es, »übers Betriebsgelände ziehende Essensgerüche«
     einzudämmen, denn »die könnten der Hochzeitsgesellschaft den Appetit verderben«. Beim Unternehmenskauf, erklärte Rüsberg,
     gehe es ebenso wie beim Aufgebot nun einmal darum, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Der eine oder andere Geschäftsführer,
     in aufrichtiger Sorge um die schwindende Leistungsfähigkeit seines Unternehmens, konnte bis an den Schreibtisch seines Treuhandfürsten
     vordringen und ein Sanierungskonzept zur Sprache bringen. Doch Rüsberg hatte kein Ohr für solcherlei Eigeninitiative. »Privatisierung«,
     beschied er all zu eifrigen Geschäftsführern, »ist die beste Sanierung«.
    |110| Am 2. Oktober 1991, unmittelbar

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