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Abbau Ost

Titel: Abbau Ost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Baale
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möglicherweise noch eine ganz eigene Auffassung vorbehält. Selbst wenn der Bürger das Bürgerliche
     Gesetzbuch zu seiner Abendlektüre erklärt und es sich nachts unters Kopfkissen legt, wird ihm eine |153| verlässliche Rechtsposition nicht einmal im Traum erscheinen. Zu DDR-Zeiten gab es ostdeutschlandweit etwa 600 zugelassene
     Anwälte, im Jahre 2006 waren es, einschließlich Westberlin, 36-mal so viele, alles in allem mehr als 21 500 niedergelassene
     Rechtsanwälte. Die Rechtslage ist oft so verworren, dass sich Anwälte, um nicht den Überblick zu verlieren, immer mehr spezialisieren
     müssen. Die Bundesrechtsanwaltskammer unterscheidet in ihrer Statistik acht Fachbereiche, das sind Steuerrecht, Verwaltungsrecht,
     Strafrecht, Familienrecht, Arbeitsrecht, Sozialrecht, Insolvenzrecht und Versicherungsrecht. Während heute Fachanwälte aufgesucht
     werden müssen, überblickten ostdeutsche Anwälte und Richter, auch wenn sie gelegentlich nachschlagen mussten, das gesamte
     in der DDR geltende Recht und konnten zu allen Rechtslagen Auskunft geben. Dennoch herrschte in der DDR kein Mangel an Gesetzen.
     Alles war, abgesehen vom Insolvenzrecht, ausreichend geregelt. Und mehr noch, in der DDR waren Richter und Anwälte zu kostenloser
     Rechtsauskunft verpflichtet. Während es an den Gerichten Sprechtage gab, erteilten Anwälte beinahe täglich kostenlos Rechtsauskünfte.
     Das wurde von den Rechtsanwälten durchaus nicht als lästig empfunden, zumal ihnen auf diesem Wege immer wieder Klienten, wenn
     das Problem nicht im Gespräch geklärt werden konnte, das Mandat erteilten. Heute wird allein bei der sogenannten Erstberatung,
     die auch am Telefon oder übers Internet erteilt werden kann, ein Anwaltshonorar fällig, das laut Rechtsanwaltsvergütungsgesetz
     inklusive Mehrwertsteuer, Post- und Telekommunikationsgebühren 244 Euro (Stand 2006) betragen kann.
    Es spricht sicher nichts dagegen, wenn Lehren aus der erzwungenen Teilung gezogen werden und das wiedervereinigte Deutschland
     von den Verirrungen der deutschen Geschichte profitiert. Dieses von der Bundesrepublik abgekapselte, ständig um seine politische
     und wirtschaftliche Reputation ringende Gemeinwesen bringt eine ermutigende Botschaft mit ins wiedervereinigte Deutschland:
     Der Hang zur Bürokratie ist nichts typisch Deutsches, sondern eine durch den Beamtenstatus ausgelöste gesellschaftliche Fehlentwicklung.
     Und mehr noch, ein demokratisches |154| Deutschland muss sich mit diesem Zustand nicht abfinden, es kann die Fehlentwicklung korrigieren. Ostdeutschland erlebte in
     den viereinhalb Jahrzehnten, da es dem Einfluss des deutschen Berufsbeamtentums entzogen war, eine Blütezeit der Entbürokratisierung.
     Nicht nur der Beamte, der Begriff des Staatsdieners überhaupt, war weggefallen. Die heute übliche Unterscheidung zwischen
     öffentlichem Dienst und gewerblicher Wirtschaft mit ihren jeweils ganz eigenen Arbeitsbedingungen und ihrem gänzlich anders
     geregelten Einkommensgefüge war in der DDR abgeschafft worden. Den Beschäftigten in den staatlichen Verwaltungen erwuchsen
     aus ihrer Anstellung keine Privilegien. Die Wirtschaft bot oft die interessanteren und besser bezahlten Arbeitsplätze. Heute
     hat sich die Ausgangslage geradezu ins Gegenteil verkehrt. Schulabgänger orientieren sich bei ihrer Berufswahl weniger an
     der gewerblichen Wirtschaft als vielmehr am Staatsdienst, der jungen Menschen heute eindeutig die gewinnbringendste Anstellung
     bietet. In Ostdeutschland, wo binnen zweier Jahre zweieinhalb Millionen Arbeitnehmern gekündigt wurde, wo weitere Millionen
     Arbeitnehmer sich nur noch mit prekären Beschäftigungsverhältnissen über Wasser halten, wird eine unkündbare, gewerkschaftlich
     abgesicherte Stellung als höchstes Gut angesehen, erscheint der an die existenzielle Sicherheit zu DDR-Zeiten erinnernde Status
     des deutschen Beamten als die am meisten erstrebenswerte Berufswahl. Es ist in Ostdeutschland unmöglich, in der gewerblichen
     Wirtschaft bei vergleichbarer Qualifizierung eine Anstellung zu finden, die so viel Sicherheit bietet und so hoch bezahlt
     wird wie die Verwaltungstätigkeit des Beamten und öffentlichen Angestellten. Diese Erkenntnis stößt auf das abwägende Interesse
     der nachwachsenden Generation, die eine berufliche Entscheidung treffen muss. Im Osten der Republik gibt es kaum einen jungen
     Menschen, der seine Chancen auf die Übernahme in den Staatsdienst nicht wenigstens sorgfältig

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